100.000 Tacken. Reiner Hänsch

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100.000 Tacken - Reiner Hänsch

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      Na bitte, Willi freut sich also auch.

      Die Beckebanz-Papiere kommen überpünktlich, am nächsten Tag schon, und ich werde das Gefühl nicht los, dass Herr Beckebanz über Nacht alles ausgearbeitet, den Filialleiter gegen zwei Uhr geweckt und ihn um Unterzeichnung gebeten hat, und sie dann höchstpersönlich heute morgen noch vor Briefträger Fauseweh in unseren Kasten gesteckt hat. Ja, ja, den Banken geht’s auch nicht mehr so.

      Papiere, Papiere … ich habe plötzlich so eine Ahnung, dass die Papierflut überhaupt nicht mehr aufhören wird. Ich hatte keinen Schimmer mehr, dass man sich durch so viel Papier fressen muss, um einfach nur ein schönes Haus zu besitzen. Einmal hatten wir das ja schon alles gemacht bei unserem eigenen Haus, aber war es denn da auch so viel?

      Ich weiß es nicht mehr. Ich war auch noch ein paar Jahre jünger. Das wird es sein.

      ***

      Der Termin beim Notar, Herrn Dr. Dr. Großjohann, in dessen Kanzlei in einer alten furchteinflößenden protzigen alten Villa im Graf-Arnold-Weg ist für uns so etwas wie das Betreten einer unheimlichen, eigentlich gar nicht existierenden Zwischenwelt, die sich hinter unserem bisherigen erbärmlichen Leben irgendwo versteckt hatte, einer bisher völlig unbekannten Sphäre in einer nicht vorstellbaren Daseinsform.

      Es riecht nach alten Büchern, Staub, großer Weisheit und Angst und Schrecken. Ein paar fast durchscheinende schimmelige Bücherwesen durchqueren missmutig die finsteren Flure, an ihren Tentakeln kleben Papiere und Verordnungen, die das außerterrestrische Leben in dieser feindlichen Welt hier draußen regeln.

      Ein fast kopfloser Aktenmolch in grauer Strickweste trägt ein paar schwere Steinplatten mit wichtigen Gesetzestexten zu einem Kopierer. Wir haben soeben die Karten gelöst für die abenteuerlichste Geisterbahnfahrt durch Formulierungen, Paragrafen, bisher nie vernommene Begriffe und die wundersamsten Satzkonstruktionen, die wir je erlebt haben. Steigen Sie ein, meine Herrschaften, anschnallen und ab geht die Fahrt. Wer überlebt, ist selber schuld! Hahaha.

      Ein Kartenabreißer in dunklem Anzug und einem dritten Auge auf der Stirn dirigiert uns mit einer Andeutung von Lächeln zu unseren Startpositionen. Wir nehmen also eingeschüchtert und ehrfürchtig Platz auf lederbezogenen Holzsesseln, die beim Hinsetzen überheblich knarzen und nach Tod und Verzeiflung riechen.

      Und so verharren wir still eingeklemmt zwischen hundert Meter hohen, einsturzgefährdeten Bücherwänden voller Gesetze und Verordnungen, die wahrscheinlich nur ein einziger Mensch auf der ganzen Welt alle auswendig kann, und das ist Dr. Dr. Großjohann-Dumbledore höchstpersönlich, der jetzt nach einem blechernem Fanfarensignal erscheint. So sieht er jedenfalls aus mit seinen schütteren weißen, recht langen Haaren und so bewegungs-, regungslos und völlig unbeeindruckt, als hätte er alle diese Gesetze selbst gemacht, rasselt Lord Dumbledore dann auch den äußerst schwierigen und für uns völlig unverständlichen Text unseres vielleicht lebensentscheidenden Vertrages einfach so locker herunter. Er ist Gott.

      Und Gott macht das nun sicherlich schon zum hundertausendsten Mal, seit er Moses die ersten selbstgemachten Gesetze seiner Laufbahn überreicht hat, und er sieht auch so aus, als ob er es nicht mehr lange machen würde. Großjohann-Dumbledore nuschelt da die kompliziertesten Sachverhalte und Wortgebilde einfach so lässig raus, als würde er aus einer langweiligen, immer gleichen Speisekarte eines beliebigen griechischen Lokales vorlesen, die ja nun wirklich jeder auswendig kennt.

      Suflaki, Bifteki, Zaziki, Gyros, Kalamaris, Chefplatte

      „Fragen Sie bitte, wenn Ihnen irgendetwas unklar ist.“ Wolle noch ein Ouzo?, sagt Gott gnädig und fast gelangweilt über seine silberne Lesebrille und meint damit natürlich nur uns. Aber wir fragen lieber nicht. Was sollte man auch fragen? Es ist alles unklar.

      Der Noch-Besitzer des Hauses, Herr Pollmann, ein älterer, stiller, grauhaariger, vielleicht auch leicht verkniffener Mann, dem das bisherige Leben scheinbar übel mitgespielt hat, mit einem Gesicht, das irgendwie von langem Leiden, aber auch ein wenig neuer Hoffnung erzählt, scheint alles zu verstehen, oder es ist ihm egal. Jedenfalls hat er wohl nicht vor, den Abschluss dieses Vertrages durch unnötige Fragen seinerseits aufzuhalten. Ihm kann es kaum schnell genug gehen, hat man den Eindruck. Er ist etwas unruhig. Und auch Willi macht mächtig Druck.

      „Ja, dat is‘ ja alles klar, woll? Also, weiter bitte, keine Fragen von uns, Herr Dr. Dr. Großjohann.“

      Nein, nein, wir fragen auch nix und sind dann irgendwann auch fast durch. Die Bücherwände stehen noch und Gott will schon die Speisekarte zuklappen, als er dann noch fragt: „Gibt es noch irgendwas zum baulichen Zustand der Immobilie zu sagen, Herr Pollmann? Alles in Ordnung damit?“

      Herr Pollmann macht eine spitze Schnute, stößt ein wenig Luft aus und sagt dann recht zögerlich: „Naja, wissen Se, dat issene alte Kasten. 1896 jebaut … da jeht schomma wat kaputt, aböörr …“

      Wir nicken voller Verständnis und sind Herrn Pollmann geradezu dankbar für so viel Offenheit. Klar, dass da mal was kaputtgeht. 1896. Leute! Natürlich kann da mal was passieren.

      „Aber es geht alles, oder?“, fragt Dumbledore streng über seine Brille hinweg.

      „Jo“, sagt Herr Pollmann und nickt dazu, „et jeht allet. Heizung löppt, dat Dach is‘ noch discht … tjooo … naja, die Rohre sin natürlisch alt …“

      Willi Dunkeloh schwitzt schon wieder. Was hat er denn nur? Ist doch klar: 1896!

      „Gut“, sagt Dumbledore und räuspert sich ein wenig nervös, er wird auch etwas unruhig und will wohl ein Ende haben. „Dann nehmen wir noch auf, dass die Immobilie in einem altersentsprechenden Zustand ist. Gekauft wie gesehen. Alle einverstanden?“

      Pollmann nickt zufrieden und wir sowieso. Einverstanden. Natürlich. Alles klar.

      Na gut. Dann also: griechische Speisekarte zuklappen! Ich weiß jetzt, was ich nehme.

       Baklava, Joghurt mit Honig, Ouzo? Die Rechnung, kali nichta!

       Gute Nacht!

      So, das war’s also für den guten alten Dumbledore. Seine letzte große Rolle. Ich rechne mal kurz nach, was diese halbstündige Veranstaltung dem weisen, alten Mann bei einskommafünf Prozent von der Kaufsumme eingebracht hat und komme auf circa zweitausendsiebenhundert Euro. Nicht schlecht. Da hat Richard Harris‘ die Gage für seine Auftritte in den Harry-Potter-Filmen weitaus schwerer verdient.

      Herr Pollmann übergibt uns sichtlich erleichtert eine dicke Mappe mit viel, viel Papier drin.

      „Dat sin de Mietverträge, de Pläne, Versischerungen und all dä janze Kram, dä dazujehört. Wärden Se jlücklisch damit.“ Herr Pollmann kommt aus dem Rheinland. Mönschenjladbach. Hat nach Arnsberg hin geheiratet.

      „Danke“, sage ich und nehme die schwere Mappe entgegen. „Warum haben Sie denn jetzt eigentlich Ihr schönes Haus verkauft, Herr Pollmann?“, frage ich ihn dann noch ganz munter.

      Er sieht mir daraufhin tief in die Augen und sagt: „Wissen Se wat? Isch bin zu alt für so’n Scheiß.“

      Ah so. Ja klar. Und dann nickt er uns noch mal zu und ich meine auch, dass er fast entschuldigend seine Schultern um ein paar Millimeter hebt … und dann haut er ab.

      Nach ausgiebigem Händeschütteln mit allen anderen Beteiligten verlassen auch wir

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