100.000 Tacken. Reiner Hänsch

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100.000 Tacken - Reiner Hänsch

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kann“, beendete meine liebe Frau Steffi den Satz, der eigentlich in eine andere Richtung gehen sollte. Aber gut, sie hatte ja recht. Große Lust hatte ich auch nie auf die sehr seltenen, meist sonntäglichen Fahrten nach Neheim-Hüsten.

      „Also, macht euch fertig. Gleich geht’s los und zur Sportschau sind wir wieder zurück“, sagte ich dann immer und meistens klappte das ja auch.

      Die Fahrt von Leckede-Hintersten, wo wir drei Knippschilds wohnen, ganz hinten im Sauerland, nach Neheim-Hüsten wurde meistens schweigend und in böse vor sich hin brummender schlechter Laune verbracht. Aber wat mutt, dat mutt. Er war immerhin mein Onkel.

      Wenn ich Leckede-Hintersten als Ort „ganz hinten“ im Sauerland beschreibe, dann könnte ich auch sagen „mittendrin“. Gemeint ist eigentlich „weit weg von allem“. Sauerland eben. Aber wir fühlen uns dort sehr, sehr wohl. Schönes Fleckchen Erde. Das muss man schon sagen.

      In Neheim angekommen, ließen wir uns also dann jedesmal mindestens eine Stunde lang auf Sauerländisch beschimpfen und ausmeckern, denn Onkel Günter war eben nicht nur knurrig, sondern auch ein richtiger Ur-Sauerländer und er sprach auch so. So mit dem singenden, zischenden „s“, dem rollenden „r“ und dem „ch“ statt „g“ und dem „g statt „j“ und all den anderen recht schrägen Auswüchsen dieses knorrigen Dialektes.

      „Schrreibsse imma noch für dat Käseblatt in Leckede, Alex?“, begann er meistens mit mir. „Kannsse nich ma bei ’ne rrichtige Zeitung anfangen, Käa? Wat verdiensse denn da? Da kommt do’ bestimmt nix bei rrum!“ Und dann ging es meistens mit Steffi weiter. „Un’, Steffi, sach ma’, wat läufsse denn in so abcherrissene Texashosen rrum. Die sin auch chanz versckossen, keine Farbe mehr drrauf, un da sin au Löcher drrin, hasse dat schon chemerkt? Heute is’ Sonntag! Warrum hasse dich nich wenigstens für mich ma ’n bisken skhick chemacht? („sckick“, sagte er immer mit „k“ wie bei allen Wörtern mit „sch“) Außerdem bisse au’ dicker cheworden. Frriss donnich so viel, Steffi, verdorrich nomma! Habbter euch denn nich inne Chewalt?“ Und dann war er bei Max. „Und warrum hat euer Gunge (Junge) denn so sckrrecklich lange, fiese fettige Haare. Ihr dürft ihm sowat nich’ durchchehen lass’n. Ihr seid nich strreng chenuch mit ihm! Der brrauch’ ab und zu ma wat hinter de Löffel, glaubich!“

      Wir tranken verbissen den mitgebrachten Kaffee, aßen den mitgebrachten Kuchen und widersprachen dem alten Knacker, so gut es ging. Max stierte glücklicherweise in den alten Blaupunkt-Röhrenfernseher, der Onkel Günters schlecht gelüftetes Wohnzimmer beherrschte, und bekam nicht viel von seinem Geknöter mit, und ich konnte Steffi gerade noch zurückhalten, dem Alten direkt an die Gurgel zu gehen und ihn so schon etwas früher ins Jenseits zu befördern, weil sie nun wirklich kein bisschen dick war. Aber ihre Jeans waren tatsächlich etwas zerissen, doch das hat man ja jetzt so.

      Ach, der Alte war einfach unmöglich. Und was ich bei meiner kleinen Zeitung als Redaktionsleiter verdiene, ging Onkel Günter nun wirklich überhaupt nichts an. Außerdem ist es genug und reicht wunderbar für uns alle. Wir kommen gut klar.

      Sicher macht man sich in meinem Alter auch schon mal Gedanken um die sogenannte Altersvorsorge.

      Phh. Schon das Wort …! Früher habe ich immer laut und rebellisch gelacht, wenn mein Vater mich ermahnt hat, an die Rente und den ganzen Quatsch zu denken. Lebensversicherungen, Bausparverträge, ja, ja, lass mich bloß in Ruhe damit … Aber heute … mit Familie … naja … ach komm, es läuft ja alles.

      Wir waren jedenfalls nach etwa zwei Stunden Onkel-Günter-Beleidigungen immer heilfroh, wenn wir dann endlich wieder loskonnten.

      „So, Onkel Günter, es reicht mal wieder! Tschüss! Wir müssen“, sagten wir dann, dachten aber: Wir ham die Schnauze mal wieder so richtig voll von dir, du altes Ekelpaket.

      Er war eben alt und verknöchert. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, weil man in seiner Generation und in seinem Alter eben alt und verknöchert zu sein hatte. Aber er war trotzdem ein alter Ätzer. Da gab’s nichts dran zu beschönigen. Ein waschechter Kotzbrocken. Bis heute.

      Vor etwa vier Wochen war er also gestorben, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Oder eben „Hätzinfack“, wie der Sauerländer gerne hinter vorgehaltener Hand und mit betroffenem Gesicht an den Nachbarn weiterklatscht. Nicht, dass man ihn vermisst hätte, aber nach drei Tagen fiel den Nachbarn auf, dass sie gar keinen Streit mehr mit dem alten Knacker hatten, weil er ja gar nicht mehr auftauchte. Und da hat man schließlich doch mal nach ihm gesehen, und es war zu spät. Tot – mit dem letzten, ganz ordentlichen Rentenbescheid in der Hand, saß er in seinem abgescheuerten Sessel vor dem laufenden Fernseher. Die Beerdigung fand sozusagen in aller Stille statt und war auch erwartungsgemäß spärlich besucht.

      Und dann kam eines Tages dieser Brief vom Nachlassgericht, in dem man uns als Erben benannte.

      Uns? Das kann doch nicht sein. Aber gut, er hatte keine anderen Verwandten mehr. Tante Emmi, seine Frau, war schon vor vielen Jahren gestorben, wahrscheinlich, damit sie endlich ihre Ruhe hatte vor dem alten Knöterich. Kinder hatten die beiden keine – et hat einfach nich geklappt, woll – und die Geschwister waren ja auch schon alle tot. Da bleiben nur noch wir, die kleine und im Großen und Ganzen recht fröhliche Familie Knippschild. Alex, Steffi und Max.

      Ja, aber was sollte der olle Muffkopp denn schon zu vererben haben? Das kann ja wohl nichts Dolles sein, dachten wir so. Und heute kam dann die Bestätigung, dass wir tatsächlich auch Erben sind.

      Das Schreiben des Gerichts vermeldete, dass sein Vermögen sich auf einige noch recht gut erhaltene Möbel, ein paar Bücher, Bilder, einen Kühlschrank, einen Blaupunkt-Röhrenfernseher … und ein Bankguthaben von 98.456,45 Euro beliefe. Und das alles gehöre jetzt uns!

      Achtundneunzigtausend? Boah!

      Was war Onkel Günter doch für ein wunderbarer Mensch! Gütig, weise, jesusgleich und ewiggut. Ich hab’s doch immer gewusst.

      „Das gibt’s doch nicht!“, haucht Steffi leise und andachtsvoll, als sie das Schreiben des Nachlassgerichtes in den zitternden Händen hält.

      „Lass mal sehn!“, meine ich nur und nehme ihr vorsichtig das Papier aus der Hand, damit auch ja keins von den schönen Worten, die sie eben noch so würdevoll vorgelesen hat, verrutscht oder herunterfällt. Ja, es scheint zu stimmen. Da steht in der für Menschen ja eigentlich gar nicht verständlichen Sprache der Ämter und Gerichte, dass das alles jetzt uns gehört. Wir sind plötzlich reich. Also, zumindest recht wohlhabend.

      „Tatsächlich“, sage ich erstaunt und reiche ihr ziemlich aufgewühlt das schöne Schreiben zurück. „Da steht’s. Fast hunderttausend Tacken. Boah ey! Ich werd bekloppt!“

      Ja, da entgleist einem schon mal das feine, gepflegte Hochdeutsch.

      „So viel Geld hatte der alte Knaster noch auf der Kante?“, sagt Steffi und schüttelt noch mal den Kopf und sagt auch noch mal „Das gibt’s doch nicht!“ und auch noch mal „Boah ey!“.

      „Was für Geld?“, fragt Max ganz nebenbei und sucht in erster Linie nach seinen neuen Sneakers, die gestern doch noch irgendwo waren.

      „Opa Günters Geld!“, sage ich bedeutungsvoll, mit der angemessenen Würde, aber auch immer noch ehrlich erschrocken über die fantastische Höhe dieses überraschenden Nachlasses.

      „Der hatte Geld?“, scheint auch Max nicht glauben zu wollen, denn angesehen hatte man das weder ihm noch seiner Wohnung. Und besonders freigiebig war er schon gar nicht. Ganz und gar nicht! Er hätte Max ruhig hier und da mal einen Zehner oder auch mal mehr

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