Jakob der Letzte. Peter Rosegger
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Sie hatte sich mattgelaufen und heiser geschrien in der Gegend, und daß das Kind so lieblos und verblendet gewesen und seinen Eltern und Geschwistern entflohen sein sollte, als wären sie seine grimmigsten Feinde, das tat ihr am meisten wehe. Seine besonderen Wege war der Knabe von erster Kindheit an gern gegangen, mit fremden Leuten war er mehrmals fortgezogen und als fünfjähriger Knabe hatte er sich draußen in Sandeben einmal einer Zigeunerbande angeschlossen. Es hieß damals, die Landstreicher hätten den Knaben verhext und ihm ein Tränklein beigebracht, daß er seither keine Lab’ und Lieb’ daheim mehr empfinden könne. Die Maria bekannte nun, es sei ihr immer vorgegangen, mit diesem Kinde würde es eine andere Wendung nehmen als mit gewöhnlichen Kindern, sie behauptete, es habe immer ein ganz besonderes unerforschliches Wesen gehabt und es sei ihr oft beigekommen, Gott müsse mit ihm etwas Eigenes im Sinne haben. Wenn sich das Weib ausgeweint hatte, dann kam plötzlich wieder die Zuversicht, es müsse mit dem Jackerl zu einem großen Glücke ausschlagen. Wenn er nur so viel gewesen und zu mir gekommen wäre! rief der Pechölnatz häufig aus, wir wollten uns schon unterhalten haben miteinand’. Und hätt’s sein müssen, das Umlaufen, so hätt’ ich ihm die Pechölbutten auf den Buckel geschnallt: Jetzt lauf’ um zu den Leuten, jetzt weißt warum!
Am vierten Tage des Suchens brachte jemand die Nachricht, oben am Fuße des Hochgebirges, im Gottesfrieden, am Rande des kleinen Sees, seien zwei Knabenschuhe gefunden worden. Als man diese Schuhe der Maria zeigte, wendete sie sich rasch davon ab, wankte in den Winkel der Stube und sank dort zu Boden. Es waren die Schuhe des Jackerl. Sie waren handgerecht aufgeriemt und von den Füßen gezogen worden, und das erklärten sich die Leute so: Der Knabe sei auf seiner Wanderung im Gebirge von Hunger befallen worden und habe in dem See Forellen fangen oder sich die wunden Füße baden wollen. Er habe die Schuhe ausgezogen, sei in das Wasser gestiegen, habe sich zu weit vorgewagt und sei in der Tiefe versunken. Etliche meinten, es könne auch anders gewesen sein: Der Knabe habe sich der Schuhe entledigt, um mit bloßen Füßen leichter die Felswand hinanzuklettern, und wenn sein Leichnam im Hochgebirge nicht gefunden werde, so sei er nach dieser Richtung hin davon und werde wohl so leicht nicht eingeholt werden können. Der Untergang im See war übrigens weitaus glaubwürdiger.
Da bis an den fünfundzwanzigsten Juli, als an dem Tage des heiligen Apostels Jakobus, keine Spur gefunden und keine Kunde von dem Knaben gekommen war, begingen sie in der Pfarrkirche zu Sandeben die Totenfeier für den verunglückten Jackerl.
Das Elternpaar war ruhig und ergeben. Der Schmerz hatte ausgetobt, jetzt war der Tag zum Gebet und frommen Gedenken. Es war ein düsterer Hochsommertag mit Regen und Donner. Die Kerzen des Altars widerstrahlten an der Vergoldung und legten ein trübes Rot an die Kirchenwände. Die Kirche war voll von Menschen, die Altenmooser hielten zusammen in Leid wie in Freude. Die Maria kniete in ihrer Bank und schloß die Augen. Frohe Bilder aus Jackerls Kindheit dämmerten in ihrer Seele auf; alle Unarten und Wildheiten des Knaben waren vergessen, heiter, schön, sanft, kindlich und zärtlich, wie man sich das Anbild eines Kindes denkt, so stand der Knabe nun vor dem schöpferischen Mutterauge, und schließlich versammelten sich alle ihre Gedanken und Empfindungen im Gottesfrieden, wo der See ist. Dort stand ihr Herz wie am Eingange der Ewigkeit, und sie klopfte an. Aber der Jackerl wollte nicht kommen, um zu öffnen. Und die Mutter weinte still in sich hinein.
Der Jakob kniete neben seinem Weibe. Sein Auge war tränenlos, sein Gesichtszug fast herb. Das Gedächtnis an sein Kind war nicht rein geworden von Bitterkeit und Vorwurf. Oft stand der körperlich so schön gewesene Knabe wie eine Mißgeburt vor ihm. Der trotzige Junge, dem der Zug aller Jakob Steinreuter, die Anhänglichkeit an Eltern und Heimatserde so ganz und gar mangelte, der das Vaterhaus mißachten und treulos verlassen konnte – war das wirklich ein Altenmooser Kind, war es kein Wechselbalg gewesen? Nichts war von jeher den Steinreuterleuten verächtlicher vorgekommen, als ein Stromer; ohne festen Grund und Halt wie seine Füße sind, ist der Charakter eines Vagabunden. Der rechte, echte, feste und treue Mensch muß irgendwo wurzeln, nicht anders wie ein Baum, ein Kornhalm. – Im Kirchenschiff flogen ein paar Schwalben umher.
Selbst die losesten Geschöpfe, die beflügelten, wenn sie auch fortziehen, sie kommen alljährlich wieder zurück in ihre heimatlichen Dachfirste. Und so ein junger Nichtsnutz! Ein Steinreuterkind in Altenmoos davonlaufen! Davonlaufen! – Es hat ihm das Leben gekostet! – Wenn er sich’s freiwillig genommen hätte! Wenn er in der Heimat sterben wollte, weil er, vom bösen Zauber gehetzt, in der Heimat nicht leben konnte! – Die Tat wäre eines Jakob Steinreuter würdig. Gott schütze uns! Warum hätte er das Wasser gewählt, welches die Teile seines Leibes der Heimatserde entführt und in das weite Weltmeer hinausträgt! – „Er ruhe im Frieden!“ betete der Priester am Altar. Wo? fragte sich Jakob. Er hat im Leben keine Statt gehabt, er hat im Tode keine. Und das ist mein Kind gewesen! – So sann Jakob. Der Bauer zu Altenmoos konnte freilich keine Vorstellung davon haben, daß auch das Geschlecht der Steinreuter seinen Anteil hat an dem Geschicke des Ewigen Juden, daß auch dieses Geschlecht seinen friedlosen Weltpilger gebären muß, und daß solcher Sprößling um so ungebärdiger seine weiten Wege suchen muß, je enger und fester sich der Kreis dieser Familie gehalten hatte. Wenn ein Geschlecht sehr einseitig ist, so steht in ihm plötzlich ein Mitglied auf, das nach der entgegengesetzten Seite ausartet.
Heiterer als der stillblutende Schmerz der Mutter, als die zornige Liebe des Vaters, war bei dem Gedächtnisamte die kindliche Andacht der kleinen Geschwister. Sie saßen neben der Mutter und schauten in das Schiff der Kirche empor, ob mit den Schwalben denn nicht auch ihr Bruder dort umherfliege. Es war ihnen gesagt worden, daß der Jackerl ein Engelein des Himmels geworden sei.
Der störrische, tollwitzige Bruder ein Engelein! Es ließ sich zwar nicht gut reimen, und ein Kinderkopf ist mitunter zu klein, als daß viel Ungereimtes darin Platz hätte. Die kleine Angerl schlichtete aber den Zwiespalt, indem sie dem kleinen Friedel zuflüsterte, es gebe halt auch wilde Engel, so wie es wilde Tauben gibt, und wenn der Jackerl im Himmel Flügel habe, so brauche er nicht durchzugehen, so könne er durchfliegen. Es war den Kindern nicht denkbar, daß der Jackerl in seiner ewigen Heimat ruhig sitzen bleiben würde.
Der Pechölnatz blickte in der Kirche fortwährend auf die zwei Kinder und freute sich sehr, daß sie nicht traurig waren; die Kinder müssen mit allem spielen können, auch mit dem Tode, und wenn sie einem Knochen Federn anbinden, so ist der Engel fertig.
Als sie nach dem Gottesdienste aus der Kirche traten, gerade unter dem Tore, gab der Jakob seinem Weibe etwas unsicher die Hand und sagte: „Es ist vorbei. Machen wir das Kreuz darüber.“
Von diesem Tage an wurde im Reuthofe über den Jackerl kein Wort mehr gesprochen. Wenn dem Vater irgendwo ein Kleidungsstück des verlorenen Knaben in die Hand kam, so schleuderte er es fast unwillig von sich, und doch krümmten sich seine Finger, daß es daran hängen bliebe. Die Maria aber barg solche Stücke in ihrem Gewandkasten und an den langen Sonntagsvormittagen, wenn alle anderen in der Kirche zu Sandeben waren, öffnete sie den Kasten, herzte und küßte die Kleider des Knaben und netzte sie mit ihren heißen Tränen.
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