Im Schoß der Familie. Franziska Steinhauer

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Im Schoß der Familie - Franziska Steinhauer

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Ihre Anmut, ihr Liebreiz verzauberten die Gäste. O Gott!» Jetzt konnte der Hausherr die Tränen nicht länger zurückhalten.

      Fritz Ganter schwieg, während sein Gegenüber um Fassung rang. Nicht aus gesprächstaktischen Gründen, sondern weil er schlicht nicht wusste, wie er auf diesen emotionalen Ausbruch reagieren sollte. Seinem täglichen Umgang entsprach mehr der rauhe Handwerker, der einfache Mann von der Straße oder der arbeitslose und entwurzelte Kriegsheimkehrer, der verwirrt nach einem neuen Einstieg ins Leben suchte. Ratlos strich Ganter sich übers Kinn, knetete es, streichelte die Stoppeln gegen den Strich. «Mireille Loliot muss die Gesellschaft nach dem Dessert und vor der Ankunft in der Bibliothek verlassen haben. Hat sie jemand aus dem Raum begleitet?»

      Heimar von Weitershausen putzte sich die Nase, straffte den Rücken und warf Ganter einen vernichtenden Blick zu. «Dies ist ein offenes Haus! Wir saßen in entspannter Runde beim Essen, erwarteten die Gäste, die danach zu einer kleinen Feier dazustoßen sollten. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich jeden meiner Gäste ständig im Auge behalte! Wenn Mireille von jemandem begleitet werden wollte, um sich zum Beispiel im Garten die Füße zu vertreten, wäre das allein ihre Entscheidung gewesen! Ich unterstelle doch niemandem unlauteres Benehmen!» Empörung sprach aus seiner Haltung, Wut aus den Augen, die nur Sekunden zuvor in Tränen zu schwimmen schienen.

      «Sie missverstehen mich. Mich interessiert, ob ihr jemand folgte. Ungebeten.»

      Darüber dachte Heimar von Weitershausen lange nach. Dann formulierte er sorgfältig und mit Bedacht: «Retrospektiv glaube ich mich daran erinnern zu können, dass ich Xaver Koch, den Sohn des Lyrikers Franz Koch, auch habe aus dem Raum gehen sehen. Zumindest stieß er erst mit Verspätung zu uns im Rauchsalon.»

      Der junge Mann wirkte auf Ganter, als habe er einmal beobachtet, wie ein wahrhaft Trauernder sich gebärdet, und spiele diese Szene jetzt theatralisch nach. Bühnenreif, schoss es dem Ermittler durch den Kopf, durchaus vorzeigbar. Doch Misstrauen hatte sich im Herzen des Beamten breitgemacht. «Sie sprachen von Ihrer großen Liebe zu Fräulein Loliot.»

      «Ja, es ist wahr!» Zum wiederholten Mal fuhr seine Hand über die Stirn, als prüfe er, ob er Fieber habe. Eine Geste ohne Kraft. Mutlos. Leblos.

      «Sie hatten dem Fräulein Ihre Gefühle bereits gestanden?», bohrte Ganter weiter.

      «Nein.» Die Antwort war nur ein Hauch.

      Normalerweise hätte Ganter seinen Zeugen jetzt heftig angefahren, ihn ordentlich angeblafft – aber das war angesichts dieser Gesellschaft wohl nicht angebracht. Diplomatie war eher vonnöten, zumal er nicht wusste, wie dieser seltsame junge Mann auf einen harten Anwurf reagieren würde. Er nahm einen geschmeidigen Anlauf: «Sehen Sie, Herr Koch, es würde meine Arbeit tatsächlich sehr erleichtern, wenn Ihre Antworten weniger einsilbig ausfielen. Mit Ein-Wort-Sätzen ist mir nicht geholfen. Sie sollten also mit Informationen nicht so sparsam umgehen.»

      Xaver Koch sah ihn verwirrt an. Dann bettete er seinen Kopf auf den Unterarmen und schluchzte dem Tisch zu: «Ich habe sie so geliebt, so unendlich geliebt!»

      Ob Pose oder echtes Gefühl – es war das Letzte, was Ganter noch zu hören bekam. Er schickte ihn hinaus.

      In der Tür wandte Koch sich noch einmal um und fixierte den Beamten mit einem Blick, in dem ein bedrohliches Maß von Irrsinn flackerte. «Fragen Sie den Hausdiener!», kreischte er schrill. «Der darf immerhin jederzeit in jeden Raum. Und das Messer! Fragen Sie ihn nach dem Messer!» Dann rauschte er davon.

      Konrad Benno Katzmann lag in seinem Bett, starrte die Decke an und fühlte sich unendlich alt.

      Aus dem Nebenzimmer drangen leise Geräusche zu ihm herüber. Frieda, die der Kleinen ein Schlaflied vorsang, das von süßen Träumen erzählte und eine ruhige Nacht prophezeite. Bauchschmerzen, hatte seine Frau gesagt, das wäre in diesem Alter durchaus nicht ungewöhnlich. Helga würde sie einfach wegschlafen, und am nächsten Morgen sei alles vergessen.

      Konrad schloss die Augen. Finanziell hatte sich die Krise bei ihm nicht allzu schmerzhaft ausgewirkt, überlegte er zufrieden. Auch Frieda wusste, dass es ihnen viel besser ging als den meisten ihrer Bekannten und Freundinnen. Er hatte bemerkt, dass sie nicht mehr ausging und die anderen auch nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Offensichtlich war ihr der relative Wohlstand peinlich. Konrad gegenüber allerdings behauptete sie, ihr Rückzug läge an seiner chronisch schlechten Laune, er verbreite eine negative Stimmung und ihre Freundinnen fühlten sich in seiner Gegenwart gehemmt. Sicher, er war nun viel mehr zu Hause als früher. Recherchieren für spannende Artikel – das war Schnee von vorgestern. Nachdem die Leipziger Volkszeitung ihm als Chefreporter gekündigt hatte und er sich ein neues Aufgabenfeld hatte suchen müssen, blieb ihm nun mehr Zeit für seine kleine Familie.

      Seine Finger tasteten nach Harrys weichem Fell. «Na, wir beide! Durch dick und dünn sind wir zusammen gegangen, ich verdanke dir sogar mein Leben. So etwas schweißt zusammen. Und dich stört es auch nicht, wenn ich zu Hause bin.»

      Harry war in die Jahre gekommen. Unbestreitbar. Seine Schnauze war grau, er ging nicht mehr so gern spazieren wie früher und brauchte morgens eine Weile, bis er den Körper in Schwung gebracht hatte.

      Konrad lächelte nachsichtig. In ein paar Jahren würde es ihm selbst auch so ergehen. «Weißt du was, Harry? Ich glaube, ich langweile mich. Gut, die LVZ musste uns entlassen, ist ja auch nicht so, dass ich nun gar keine Reportagen mehr schreibe und verkaufe, aber so aufregend wie früher ist unser Leben nicht mehr. Mir fehlt ein bisschen Abenteuer. Geht es dir nicht auch so?» Harry grunzte wohlig unter den kraulenden Händen. Konrad wertete das als Zustimmung. «Na siehst du! Dachte ich mir schon. Dieser Reisebildband war einen Versuch wert, verkauft sich ja auch ganz gut. Der Heinz freut sich auch schon auf den zweiten Band. Nach Leipzig nun eben Dresden.» Harry rollte sich träge auf den Rücken, damit Konrad sich dem Bauch widmen konnte. Der Streichler lachte warm. «Das hast du schon immer gemocht! Seit ich dich aus der Elbe gefischt habe.» Sanft fuhr er durch Harrys Locken. «Du, ich verrate dir was: Ich bin nicht zum Ehemann und Vater geboren! Aber das bleibt unter uns. Wenn Frieda davon erfährt, regt sie sich nur unnötig auf. Wer kann schon wissen, ob ich nicht doch anpassungsfähig werde im Laufe der Jahre?»

      Als Frieda eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer kam, war Konrad mit Harry ausgegangen. Sie seufzte, räumte das Glas und die zerknitterte Zeitung weg, legte die Wolldecke zu einem ordentlichen Rechteck zusammen und fühlte sich irgendwie ausgeschlossen – aus Konrads Denken, seinem Fühlen, seiner ganzen Welt.

      Der Sohn der Familie machte einen ruhigen Eindruck. Keine Tränen, kein Schluchzen, stattdessen ein klarer, wenn auch besorgter Ausdruck in den Augen. Verständlich, dachte Ganter, immerhin wurde in diesem Haus ein Mord begangen, da gab es Grund genug, sich Sorgen zu machen. «Mireille Loliot war etwa in Ihrem Alter?»

      Der junge Mann nickte schweigend.

      «Sie lebte in diesem Haus wie Ihre leibliche Schwester. Sie verstanden sich gut?»

      «Es ergaben sich nur selten Kontakte. Mireille lebte ihr eigenes Leben, und das recht intensiv. Für Brüder – egal, ob leiblich oder nicht – war darin nicht viel Platz. Wenn wir uns trafen, unterhielten wir uns, gelegentlich sind wir auch zusammen ausgeritten. Ich mochte ihre Fröhlichkeit.» Ferdinand von Weitershausen zuckte mit den Schultern. «Mein Vater sah es nicht gern, wenn wir uns trafen. Möglicherweise wollte er verhindern, dass wir uns zu nahe kamen.» Ein scheues Lächeln huschte um seine Lippen und verschwand.

      «Wäre diese Verbindung nicht eher sinnvoll gewesen?», fragte Ganter.

      «Mein Vater hatte andere Vorstellungen.»

      Ganter beschloss, dieses Thema zum jetzigen

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