Im Schoß der Familie. Franziska Steinhauer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Im Schoß der Familie - Franziska Steinhauer страница 6

Im Schoß der Familie - Franziska Steinhauer

Скачать книгу

style="font-size:15px;">      «Ja. Sie ging kurz nach dem Dessert.»

      «Und wer folgte ihr?» Ganter beugte sich weit über den Tisch, als habe er Angst, er könne sonst die Antwort verpassen.

      «Das lässt sich nur schwer sagen. Zu diesem Zeitpunkt begann die Gesellschaft insgesamt sich aufzulösen. Einzelne Grüppchen bildeten sich, manche suchten die Waschräume auf, andere wollten sich nach dem üppigen Essen im Garten ein wenig die Beine vertreten. Zum Glück hatte der Wachmann aufgepasst und nahm gerade noch rechtzeitig den sehr angriffslustigen Hund an die Leine.» Ferdinand schüttelte verärgert den Kopf. «Auch so eine Idee meines Vaters, um gegen Bettler vorzugehen. Wie leicht hätte einer unserer Gäste zerfleischt werden können!»

      «Haben Sie beobachtet, wer unmittelbar nach Fräulein Loliot die Tafel verließ?», hakte Ganter nach.

      «Xaver Koch, Hubertus Berlinger, Frau von Andergast und ihr Gatte und vielleicht noch eine Handvoll Leute.» Ferdinand schluckte hart. «Hätte ich geahnt, dass einer von ihnen Mireille töten will, dann wäre ich aufmerksamer gewesen!», setzte er vehement hinzu.

      «Sie ist Ihnen nicht gleichgültig gewesen.» Das war eine Feststellung, keine Frage. Ganter besaß eine gute Beobachtungsgabe, und ihm war das Flackern im Blick seines Gegenübers nicht entgangen.

      «Natürlich nicht», flüsterte der Sohn des Hauses. «Sie haben sie doch gesehen! Eine schöne junge Frau. Und doch auf eine besondere Weise unberührbar. Ich glaube, in all den Monaten streifte meine Hand nur zweimal ihren Arm. Ich mochte ihre Art, mir gefiel es, nicht mehr allein ‹Kind› in diesem Haus zu sein. Und doch verband uns tatsächlich nicht mehr als das.»

      «Wussten Sie von einer Beziehung zu Xaver Koch?», fragte Ganter.

      «Nein. Geheimnisse blieben unsere Geheimnisse, wir tauschten sie nicht untereinander aus. Eine Verliebtheit fiel mir bei ihr nicht auf. Und gerade Xaver Koch wäre eine ungewöhnliche Wahl gewesen. Ihr Vater wäre sicher nicht mit dieser Verbindung einverstanden gewesen.»

      «Die Mordwaffe ist eine ungewöhnliche Klinge. Haben Sie die zuvor im Haushalt Ihrer Familie gesehen?», schnitt Ganter abrupt ein neues Thema an.

      Der junge Mann dachte darüber nach, kaute an der Unterlippe und meinte dann bedauernd: «Nein. Allerdings schwärmte Mireille für diese Art kunstvoll gestalteter Gegenstände. Sie meinte immer, große Kunst zu schaffen sei das eine, eine größere Herausforderung jedoch sei es, den alltäglichen Dingen eine besondere, unverwechselbare Seele zu schenken. Deshalb solle mein Vater das Stipendium diesmal an jemanden vergeben, ‹der Licht und Sonne in die Tage der Menschen trägt›. Sie sehen schon, Mireille hatte manchmal unorthodoxe Vorstellungen und eine blumige Art, sie zu formulieren.»

      «Ich nehme an, Ihr Vater schloss sich dieser Meinung nicht an.»

      «Natürlich nicht. Er möchte als Kunstkenner in die Geschichte Deutschlands eingehen, nicht als Förderer von Gebrauchskunst oder Kunsthandwerk. Da macht er deutliche Unterschiede.» Der sachliche Ton hatte etwas an Schärfe gewonnen. Ferdinand von Weitershausen erhob sich mit einer angedeuteten Verbeugung. «Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gern wieder um die Gäste kümmern. Wie Sie sich vorstellen können, herrscht allgemeine Aufgeregung. Meine Mutter benötigt meine Hilfe.»

      «Einen Moment noch! Welche Pläne hatte Jean Loliot denn mit seiner Tochter? Ist Ihnen darüber Näheres bekannt?»

      «Nein. Aber eines kann ich mit Gewissheit sagen: Es waren völlig andere als die, die mein Vater für Mireille verfolgte», spuckte der Sohn des Hauses unerwartet zornig in den Raum, machte kehrt und verschwand.

      Sehr interessant, dachte Ganter. Wie mag er das wohl gemeint haben?

      Frau von Weitershausen tupfte ununterbrochen mit einem blütenweißen Taschentuch am unteren Lidrand entlang. Schniefte. Weinte. Wischte erneut.

      «Frau von Weitershausen, was für ein Mensch war Mireille Loliot?»

      Die Gastgeberin schwieg. Aber wenigstens hatte sie zu schniefen aufgehört, während sie offensichtlich auf eine Antwort sann, und das war Ganter mehr als willkommen.

      «Wie soll ich das wissen?», hauchte sie unerwartet. «Ich kann doch nicht lesen, was hinter ihrer Stirn vorgeht.»

      «Und ihr Verhalten? Ich möchte mir gern ein Bild von ihr machen können. Beschreiben Sie die junge Dame doch bitte!»

      Gundula von Weitershausen richtete ihren Oberkörper steil auf und fixierte die Augen ihres Gegenübers, während sie unemotional aufzählte, als lese sie eine Einkaufsliste vor: «Unschuldig, freundlich, wohlerzogen. Wie man es von einem Mädchen dieser Klasse erwarten darf. Die Dienstboten waren geradezu begeistert von ihrer Bescheidenheit und ihrer unkomplizierten Art. Sie fügte sich sehr unauffällig in unseren Haushalt ein, fühlte sich im Schoß unserer Familie offensichtlich geborgen.» Wieder ein Schluchzer.

      Ganter suchte misstrauisch nach Tränenspuren, fand aber keine. Aha, dachte er griesgrämig, schon wieder eine Bühnendarbietung. «Wussten Sie von der Liebe zu Herrn Koch?»

      «Aber natürlich nicht!» Gundula von Weitershausen schüttelte energisch den Kopf. «Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, so ist es den beiden gelungen, sie geheim zu halten. Möglicherweise sollte Jean es als Erster erfahren, wer weiß. Ach, der arme Mann! Er vertraute uns Mireille an, damit sie ihre angegriffene Gesundheit … Und nun starb sie in unserer Obhut!» Neue Tränen. Wischen. Tupfen.

      «Sie starb nicht einfach so – jemand hat sie ermordet», stellte Ganter klar. Sprachliche Vertuschungstechniken wollte er nicht zulassen. Seiner Meinung nach sollte die Familie so früh wie möglich damit beginnen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Außerdem erschwerten wortreiche Verschleierungen seine Ermittlungen.

      «Seien Sie nicht so roh!», tadelte ihn die Dame wie erwartet. «Es ist für uns alle ein grässlicher Hieb des Schicksals.» Sie schniefte.

      Hier kam er nicht weiter, wurde dem Ermittler klar. «Hieb des Schicksals», wie albern! «Stich des Mörders» träfe es eher, hörte er seine innere Stimme höhnen. Er beschloss, sie so gut zu ignorieren, wie es eben ging. «Ich brauche die Namen aller Personen, mit denen Fräulein Loliot näher bekannt war.»

      Ein gequältes Nicken war die Antwort. «Karl wird Ihnen eine Liste ins Bureau bringen.»

      Ganter spürte den Worten nach und befand, dies war ein Versuch, ihn in Zukunft aus dem häuslichen Milieu in der Villa der von Weitershausens herauszuhalten. Nun, überlegte er, das wird nicht gelingen. «Waren Sie selbst auch damit einverstanden, dass die junge Dame in Ihr Haus zog?»

      «Selbstverständlich. Das arme Kind hat nach dem plötzlichen Tod der Mutter nicht recht ins Leben zurückgefunden, war immer schwächlich und ohne Antrieb. Seit sie in Dresden lebte, ging es ihr sichtbar besser. Wir sorgten für reichlich Abwechslung in ihrem Alltag und viel Bewegung an der frischen Luft. Langsam bekam ihr Gesicht Farbe, und sie nahm auch wieder zu. Besondere Freude hatte sie an den täglichen Ausritten. Natürlich unternahm sie diese nicht allein, unser schwedischer Pferdepfleger Arne begleitete sie immer. Das ist ihr sehr gut bekommen», erklärte die Gastgeberin in rechtfertigendem Ton, als habe man ihr vorgeworfen, das Mädchen sei von den Weitershausens bewusst dem Hungertod überlassen worden.

      Der Dresdner Ermittler konstatierte, dass die Familie sich hartnäckig um die unangenehme Realität herumdrückte. «Wann wird Herr Loliot zurückerwartet?»

      «Genau wissen wir das nicht.

Скачать книгу