Aufbruch im Miriquidi - Chemnitzer Annalen. Gerd vom Steinbach

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Aufbruch im Miriquidi - Chemnitzer Annalen - Gerd vom Steinbach

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davon wissen, wenn du noch nie hier gewesen bist?“

      Ein überlegenes Lächeln erhellt ihre von zahllosen Erfahrungen gezeichneten Züge. Wie sollen die jungen Leute je ihre Ahnungen begreifen, wenn selbst Alte sich ihnen in Befangenheit des stumpfen Alltagsdenkens versperren? Zu sehr ist die Gewohnheit verbreitet, das Unerklärliche als unmöglich abzutun. „In meiner Familie wurde das Wissen immer weitergegeben. Meine Großmutter hat mir in meiner Kindheit schon von meiner Urgroßmutter erzählt, dass deren Vater als junger Krieger in den fernen Osten aufgebrochen war, um in der Wildnis des Waldgebirges den Sorben zu trotzen. Sie errichteten am Eingang eines riesigen Talkessels auf einem Bergsporn eine Burg, auf die sie sich zurückziehen konnten, wenn Gefahr drohte. Entlang eines Flüsschens hatten sie Felder im Tal angelegt. Im Berg gab es Höhlen, in denen sie die Ernte aufbewahrten. Es wird wohl ein halbes Menschenleben vergangen sein, ehe mein Vorfahr wieder heimgekehrt ist.“ Rudolf imponiert die Geschichte. Mutter Hildburga versteht es, fesselnd zu erzählen.

      „Aber das ist so lange her. Warum hat dein Ahn nicht die Familie nachgeholt und das urbare Land erweitert?“ Die Alte schüttelt den Kopf.

      „Die Zeit war noch nicht reif. Wer zieht schon in die Ferne, wenn zu Hause alles friedlich ist. Die Sorben siedelten sich weiter im Norden an. Nur wenige kamen zu den Unseren. Eine Besiedlung der Wildnis erschien unserem Volk nicht mehr sinnvoll. Als ein gewaltiges Hochwasser das Flüsschen zum reißenden Strom anschwellen ließ und die gesamte Erne verdarb, kehrten die Männer schließlich zurück.“

      „Woher weißt du aber, dass wir in eben diese Gegend ziehen?“, fragt der junge Fuhrmann skeptisch. „Dass wir an jenen unheilvollen Ort reisen, wo aus einem mageren Bächlein plötzlich ein mächtiges Flutwasser wird?“

      „Wirst es schon sehen, du Schlaubart. Unser Ziel sind doch die Höhlenberge, und wo hatten unsere Ahnen ihre Ernte gelagert? So viele Höhlenberge gibt es nicht. Und sie waren am Eingang eines riesigen Talkessels. Sieh doch, die Höhen wenden sich mehr und mehr gen Süden, vor uns liegt fast nur noch flaches Land.“

      „Aber, Mutter Hildburga“, lacht Rudolf, „in einem Gewässerlauf – und sei es ein noch so mager – erhebt sich niemals ein Berg. Wenn du meinst, dass sich die Berge zurückziehen, können sie sich doch schon bald wieder unserem Pfad zuwenden. Nur verwehrt uns der Wald den Blick darauf.“

      „Warten wir es ab, die Zukunft wird zeigen, wer im Recht ist.“ Die Alte ist sichtlich pikiert. „Man sollte durchaus auf die Geschichten, die am heimischen Herd erzählt werden, vertrauen, aber dafür habt ihr jungen Leute keinen Sinn! Nur was ihr greifen könnt, lasst ihr als wahr gelten. Ihr würdet gar den Wind leugnen, weil der nicht zu fassen ist.“

      „Mütterchen“, lenkt Rudolf ein, „so war das nicht gemeint. Ich will dir die Geschichte glauben, aber wer sagt, dass wir am gleichen Wege sind?“

      Gerade will Hildburga zu einer weiteren ihrer uralten Geschichten anheben, als von hinten die sich vor Panik überschlagende zitternde Stimme Heriberts an ihr Ohr dringt:

      „Aufgepasst, da drüben am Bach sind sie!“ Ruckartig fliegen die Köpfe der Fuhrleute herum und stieren angestrengt in die angegebene Richtung. Aufgeregte Eltern beordern die spähenden Jungen an die Wagen. Doch keiner vermag das Objekt von Heriberts Erregung auszumachen. Besorgte Worte schwirren von Wagen zu Wagen und tragen doch zu keiner Beruhigung bei. Endlich entschließt sich Hildebrand, die Fahrt zu unterbrechen.

      Während die Männer mit geschärften Sinnen, die Faust fest um den Axtstiel geschlossen, aufmerksam in den Wald starren und die Frauen mit den Kindern hastig unter den Planen verschwinden, eilt Hildebrand nach vorn zu Heribert, der noch immer todbleich und mit zitterigen Händen in das Dickicht weist.

      „Da … da …“, stammelt er und kann kein klares Wort hervorbringen. Aus seinem Wagen dringt ein angstvolles Wimmern, das dem Mann erst recht die Knie schlottern lässt.

      Nun verliert der Kolonnenführer die Geduld. Er fasst den Kittel des Stotternden, zieht ihn mit einem Ruck zu sich herunter und gleich darauf lässt eine schallende Ohrfeige den Stammelnden verstummen. Selbst Mathildes Greinen findet in einem langgezogenen „Iihh …“ sein Ende.

      „Jetzt sag endlich, was du gesehen hast, du Jämmerling!“ Die kraftvolle Stimme steigert sich innerhalb dieser wenigen Worte zu einem wahren Donnern. Noch immer vor Angst schlotternd, jedoch vom jähen Angriff zur Bewegung befähigt, würgt der schmächtige Mann hervor:

      „Da war er wieder, der weiße Riese mit den Glotzaugen. Dort zwischen den Bäumen stand er und hat zu uns herüber gesehen. Ihm zur Seite waren mindestens fünf Männer, die ihm gerade bis an die Hüfte reichten.“ Heribert blick scheu hinüber und fügt zögerlich hinzu: „Es werden noch mehr werden und dann machen sie uns den Garaus!“ Wie um seinen Worten Gewicht zu verleihen, lässt er seinen Finger bedeutungsvoll über die Kehle gleiten. Als Hildebrand finster die Brauen zusammenzieht und einen Knurrlaut ausstößt, zuckt der Feigling und versucht, dem festen Griff zu entkommen. Gleichzeitig erhebt sich wieder das kreischende Gejammer aus dem Wagenkasten.

      „Jetzt ist es gut, schweigt!“ Ruhig und kaum hörbar, aber in seinem kalten Zischen umso bedrohlicher, herrscht der Anführer sie an. Heinrich, der ebenfalls herbeigeeilt ist, greift nach dem Arm des Wütenden. „Den änderst du nimmer. Seine Beine werden immer braun bekleckert sein. Ob dort nun jemand war oder nicht, jetzt weiß jedenfalls auf sieben Meilen jeder, dass wir hier sind!“ Der Ältere nickt bedauernd. „Ja, eine Überraschung sind wir nicht mehr, wenn wir es denn je waren. Doch wir müssen wissen, woran wir sind! Schau nach, ob du Spuren findest und nimm dir Theobald zur Sicherung mit!“

      Eilig läuft der mittelgroße, etwas schlaksig-verwegene Mann los, um seinen älteren und bereits ergrauten Freund vom hinteren Teil des Trosses zu holen. Bald sieht man die beiden in das Unterholz des Waldes eintauchen. Geschickt winden sie sich, einander sichernd, durch das dichte Gestrüpp. Wäre nicht das unvermeidbare Rascheln des Laubes zu hören, man hätte sie glatt für Schattenhalten können. Mit geradezu geisterhafter Beweglichkeit nähern sie sich im großen Bogen dem beschriebenen Platz. Jetzt dauert es nur wenige Augenblicke, bis die Gefährten auf direktem Weg zurückkehren.

      „Es sind tatsächlich Spuren im Laub zu sehen. Einer wird auf dem schräg liegenden Stamm gehockt haben und andere standen darum. Vielleicht so fünf Männer können es gewesen sein.“ Heinrich nickt seinem Freund zu.

      „Theo versteht etwas vom Spurenlesen.“

      Hildebrand will just sein Wort erheben, als von der Spitze der Kolonne ein schriller Pfiff sein Ohr erreicht. Die aneinander gereihten Tonhöhen verkünden eine Besonderheit am Weg, ohne auf Gefahr zu verweisen. Überrascht wenden die Männer ihre Blicke in Fahrtrichtung, vermögen jedoch nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

      Aus dem Schatten der Bäume löst sich die Gestalt eines Jungen, dessen nackte Waden eilig das frostblasse Gras teilen. Die Spuren der Vorhut missachtend, sucht der kleine Läufer die Bögen auszusparen und den kürzesten Weg zu nehmen. Die angewinkelten Arme schwingen im Takt seiner Schritte, das schulterlange zerzauste Haar flattert im Wind, sein Gesicht ist vor Kälte und Anstrengung gerötet. Als er auf Rufweite herangekommen ist, tönt seine Knabenstimme dünn herüber:

      „Meister Hildebrand, komm schnell, da vorn ist …“, noch bevor er den Satz beenden kann, strauchelt er und ist im gleichen Augenblick in einer Senke verschwunden. Statt seiner stiebt ein grauer Schatten zur Seite, doch noch ehe ein Blick ihn klar erfassen kann, ist er wieder fort.

      „Das war doch Bernhard!“, krächzt Heribert und hat mit einem Schlag all seine Angst vergessen. „Mein Sohn, was ist mit dir?“ Von Sorge getrieben, springt er vom Bock, eilt zu der Stelle, wo er

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