Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher

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Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher

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Angesichts der „totalen Mobilmachung“66 der modernen kapitalistischen Zivilisation drohe die Alternative von „finale(r) Katastrophe“ oder „radikale(r) Revolution“67. Diese fatale Alternative ist die Konsequenz einer kulturellen und gesellschaftlichen Diagnose, die „soziale Beschleunigung“ als zentrales, letztlich einziges68 Differenzkriterium moderner Gesellschaften ansetzt und schließlich zu einer apokalyptischen Prognose wird: Wir alle rasen dem eigenen Untergang entgegen.69

      Moderne „und nichtmoderne Gesellschaften“ lassen sich nach Rosa „ganz unabhängig von ihrer historischen Einordnung systematisch und trennscharf unterscheiden“, insofern in modernen Gesellschaften nur noch „dynamische“ und eben nicht mehr „adaptive“ Stabilisierung70 möglich sei: Sie „gewinnen Stabilität gleichsam in und durch Bewegung“. Insofern „diese Bewegung“ aber mit der „Trias Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung“ dann „genauer als eine Steigerungsbewegung bestimmt werden“71 könne, ist die „wahrscheinlichste( ) Möglichkeit“ unter den Zukunftsszenarien moderner Gesellschaften das „ungebremste( ) Weiterlaufen in einen Abgrund, der logisch durch das endgültige Zusammenfallen der Antinomien von Bewegung und Beharrung und durch die Realisierung … des rasenden Stillstandes als Kehrseite der totalen Mobilmachung, empirisch aber vermutlich lange vorher entweder durch den Kollaps der Ökosysteme oder durch den endgültigen Zusammenbruch der modernen Sozial- und Werteordnung unter dem Druck der wachsenden Beschleunigungspathologien und der Macht ihrer dadurch begünstigten Feinde bezeichnet wird“72.

      Rosa beschreibt das sehr konkret. Den „Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharrung zu balancieren“, so Rosa, „wird die moderne Gesellschaft schließlich mit der Erzeugung nuklearer und klimatischer Katastrophen, mit sich rasend schnell ausbreitenden neuen Krankheiten oder neuen Formen des politischen Zusammenbruchs und der Eruption unkontrollierter Gewalt bezahlen, die insbesondere dort zu erwarten stehen, wo die von den Beschleunigungs- und Wachstumsprozessen ausgeschlossenen Massen sich gegen die Beschleunigungsgesellschaft zur Wehr setzen“73.

      Das ist plausibel und ja auch schon zu beobachten. Wir leben in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus, der seine Energien im Kampf gegen die Globalisierung, offenkundig auch ein Codewort für „Beschleunigung“, gewinnt, und der verspricht, die Vorteile der kapitalistischen Dynamisierung genießen zu können, ohne deren kulturellen Verunsicherungsund politischen wie finanziellen Gerechtigkeitskosten bezahlen zu müssen. Es stellen sich denn auch tatsächlich („linke“ wie „rechte“) Massen und nicht die konservativen Eliten gegen die Beschleunigungsgesellschaft und ihre diversen Zumutungen. Die Ahnung, dass der kapitalistische gesellschaftliche Entwicklungsprozess in seiner spätmodernen Phase sich letztlich doch als unsteuerbar erweist, diffundiert gegenwärtig rasant in die letzten Winkel spätmoderner Gesellschaften. Man spürt jetzt auch außerhalb der Eliten, dass die in Gang gesetzten technologischen und kulturellen Entwicklungen komplex interagieren und unsere kognitiven Einsichts- und politischen Steuerungsfähigkeiten immer öfter übersteigen. Systemtheoretisch gewendet: „Die Beschreibung von Komplexität entzieht sich den Beschreibungsroutinen, die wir üblicherweise haben.“74

      Bevor aber alle zivilisatorische Entwicklung in der ökologischen und sozialen Katastrophe endet, durchleben, so Rosa, die Individuen im entwickelten Kapitalismus nicht nur eine Phase des „rasenden Stillstands“ (Virilio), in dem sich alles ständig ändert, aber gleichzeitig nichts wirklich verändert, sondern auch eine fundamentale „Entfremdung“. Rosa rehabilitiert diesen etwas aus der Mode gekommenen marxistischen Begriff. Denn für Rosa markiert er jenes Versprechen, das die Moderne gibt und doch nicht hält, das Versprechen, ihre dramatischen Reichweitensteigerungen menschlichen Weltzugriffs würden zu gelingendem, glücklichem Leben führen. Dem sei aber, so Rosa, ganz und gar nicht so. Die kapitalistische Steigerungsdynamik spätmoderner Gesellschaften führe vielmehr geradewegs in den Zustand der Entfremdung, führe zur „Schließung der Weltporen“75. „Entfremdung“ definiert dann jenen „Zustand, in dem die ‚Weltanverwandlung‘ misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint“76.

      Denn „unter steigerungskapitalistischen Verhältnissen“77 nehme die moderne Strategie der „(Welt-)Reichweitenvergrößerung“78 notwendig „die Form der Kapitalakkumulation in einem umfassenden Sinne an: Subjekte zielen darauf, Welt erwerbbar zu machen (ökonomisches Kapital), sie zugleich wissbar, beherrschbar und nutzbar werden zu lassen (kulturelles Kapital) und dabei die eigene Weltreichweite durch Zugang zu den Kapitalien und Positionen anderer zu erweitern (Sozialkapital)“79. Das trifft sich mit Ulrich Bröcklings Analysen des „Formungsprozess(es)“ des Einzelnen in kapitalistischen Zeiten, „bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“80. Ist es bei Bröckling der Zwang zu ständiger Selbstoptimierung, der im Mittelpunkt steht, so sind es bei Rosa die „stummen“, resonanzlosen Weltbeziehungen, die diese Formation ausmachen. Es gilt eben: „Das Innere ist nichts anderes als ein auf sich selbst zurückgewendetes Äußeres – und umgekehrt.“81

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