Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher страница 6

Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher

Скачать книгу

      Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“?1 Diese Frage stellte Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de France im Frühjahr 1980. Es ging dabei nicht um Fragen von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionalisierter politischer Herrschaft, sondern grundlegender um die Frage, wie das Verhalten von Individuen und Kollektiven in der entwickelten Moderne gesteuert wird.

      Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt das antike Christentum bei Foucault einen entscheidenden, weil extrem folgenreichen und wirkmächtigen Platz ein. Denn das Christentum brachte, so Foucault, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte, sondern auch eine völlig neue Form religiöser Organisation auf der Basis einer ganz eigenen Form der Machtausübung und der Steuerung des Einzelnen. Das Christentum, so Foucault, sei die „einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat. Als solche vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche Form von Macht.“2 Foucault nennt sie denn auch „Pastoralmacht“3.

      Die christliche Pastoralmacht hat einige Eigenschaften, die sie von den bis dahin bekannten Machtformen unterscheidet. Sie ist selbstlos im Unterschied zur souveränen Königsmacht, die andere für sich sterben lässt. Sie ist individualisierend im Kontrast zur juridischen Macht, die an Fällen, nicht am Einzelnen interessiert ist, und sie ist totalisierend im Unterschied zur antiken Machtausübung, die sich nur für spezifischen, nicht für umfassenden Gehorsam bis in Intimstes interessiert. Die neue christliche Pastoralmacht bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das gesamte Leben.

      Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirte, der jedes einzelne Schaf im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem seiner Schafe interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar. Das Wissen des Hirten über jedes seiner Schafe lässt seine Macht groß, invasiv und folgenreich werden, potentiell wirksam in jedem Augenblick. Der Hirte behütet die Einzelnen nicht nur, er kann sie auch – und muss es kraft seines Amtes und Auftrages auch – mittels seines Wissens disziplinieren. Damit hat der Hirte für jedes einzelne Mitglied seiner Herde eine doppelt individualisierte Verantwortung.

      Überwachen und Bewachen, Kontrolle und Schutz gehen in der Pastoralmacht eine ganz eigene und unlösbare Symbiose ein. Die Aspekte von Versorgung und Behütung einerseits sowie Disziplinierung und Bewachung andererseits finden zuerst im Bekenntnis bei der Taufe, schließlich in Struktur und Praxis der nach und nach eingeführten individuellen Beichte ihren zentralen Ort. Das Wahrsprechen des eigenen Lebens in Bekenntnis und Beichte ist eine Form des Austausches zwischen Hirt und Herde, die in besonderer Weise von den beiden Polen des Strafens und Belohnens geprägt ist und um einen Diskurs des Geständnisses und des Wissens kreist.

      Im Geständnis des Pastorierten zur Wahrheit seines Lebens gegenüber der Gemeinde, später gegenüber dem Pastor, geht es um alles: um das richtige Leben hier und das ewige Heil dort. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. „Wir müssen“, so Foucault, „unablässig belegen, was wir sind. Wir müssen uns selbst überwachen, in uns die Wahrheit hervorholen und denjenigen darbieten, die uns beobachten, die uns überwachen, die uns beurteilen und die uns führen, wir müssen den Hirten also die Wahrheit dessen, was wir sind, offenbaren.“4 Das ist die Voraussetzung der Abtötung („Mortifikation“) des alten Ichs, des Ringens mit dem „Anderen in sich“. „Uns mortifizieren und mit dem Anderen ringen“: Mit der „Einführung dieser beiden Komponenten“ durch das Christentum, „die der antiken Kultur völlig fremd“ gewesen seien, bewege sich „das Problem der Subjektivität, das Thema der Subjektivität und [der Verbindung] Subjektivität – Wahrheit [von] der antiken Kultur vollständig weg“5.

      Die Pastoralmacht muss möglichst viel, eigentlich alles vom Leben der Pastorierten wissen, der Pastorierte daher tendenziell alles von seinem Leben selbst erkunden, ausleuchten, diskursivieren und gestehen. „Das Christentum gewährleistet das Heil eines jeden, indem es bestätigt, dass er tatsächlich ganz anders geworden ist. Die Beziehung Regierung der Menschen/Manifestation der Wahrheit ist vollkommen neu organisiert. (…) Tatsächlich regiert das Christentum, indem es die Frage der Wahrheit in Bezug auf das Anderswerden eines jeden stellt.“6

      Für Foucault schlägt in dieser Selbstthematisierung, im Geständnis der Wahrheit über sich, die Geburtsstunde des modernen Subjekts. Zweierlei macht es aus: die Dopplung von Unterwerfung (sujet) und Selbstbewusstwerdung des Eigenen als starke „Subjektivität“ sowie der dauernde Zwang zu Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung zum Zwecke der Austreibung des „Anderen in sich“, also zur – im Christentum: moralischen – Selbstoptimierung. Die neue Machtform des Pastorats koppelt Wissen, Macht und Subjektivität in einer ganz spezifischen Weise. Das ist es, was Foucault an ihr interessiert, denn diese Kopplung hat nicht nur einen christlichen Ursprung und ihre spezifische Geschichte im Christentum, sondern eine Folgewirksamkeit weit über das verfasste Christentum hinaus.

      Denn die Pastoralmacht, vom Christentum und seiner „Kirche“ (besser: seinen „Kirchen“) entwickelt und eingesetzt, wandert, so Foucault, in der Neuzeit nach und nach aus dem Christentum aus, diffundiert in vielfältige andere Institutionen, vor allem zum nun entstehenden modernen Staat. Er lernt vom Christentum, wie man Menschen regiert. Foucault analysiert diese Prozesse in seinem Spätwerk unter dem von ihm geprägten Begriff der Gouvernementalität.

      Foucault versteht darunter „dreierlei“: zum einen „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“7. Dann fällt darunter die „Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat“8. Drittens aber versteht Foucault „unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs …, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“9.

      Der Staat übernimmt nach und nach Überwachen und Bewachen, Sorge und Kontrolle: Die vom Christentum entwickelten Regierungstechniken „säkularisieren“ sich. Die neuzeitliche Gouvernementalität hat mithin, so Foucault, ein „archaische(s) Vorbild“: das „christliche( ) Pastorat( )“.10 Dieses christliche Pastorat verbindet sich im modernen Staat mit anderen, vom Staat selbst entwickelten Regierungstechniken: „Das Pastorat, die neue diplomatisch-militärische Technik und schließlich die Policey sind meines Erachtens die drei großen Elemente gewesen, von denen ausgehend dieses fundamentale Phänomen in der Geschichte des Abendlandes zustande kommen konnte, das die Gouvernementalisierung des Staates gewesen ist.“11 Der Staat selbst ist denn auch „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“12, so Foucault. Klaus Lemke hält fest: „Foucaults Regierungsanalyse liegt die historische Annahme zugrunde, daß die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauten.“13

      Freilich bleibt ein Unterschied. Die „Regierung von Menschen“ fordert im Unterschied zur christlichen „Regierung der Seelen“ eine eigene, neue Reflexion auf ihre Voraussetzungen, Gegenstände und Ziele. Das ist die Geburtsstunde der „politischen Vernunft“ als

Скачать книгу