Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher

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Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher

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      Der menschheitsgeschichtlich einzigartige Prozess der Entthronung der Religion als umfassender und alternativloser Normierungs- und Orientierungsgröße für den Einzelnen wie die Gesellschaft nahm seinen Anfang im frühneuzeitlichen Westeuropa. Er ist vielfach in seinem historischen Verlauf wie seiner systematischen Struktur analysiert worden, zumeist unter der Kategorie der „Säkularisierung“, zuletzt von Charles Taylor in seinem monumentalen Werk Ein säkulares Zeitalter.1

      Es war denn auch der säkulare Staat, der lange Zeit jene Stelle einnahm, welche die Religion aufgeben musste: die Stelle des souveränen Herrschers, der sich vor niemandem rechtfertigen muss, vor dem sich aber alle zu rechtfertigen haben. Der Staat und seine wechselnden Legitimations- und Realisationskonzepte Absolutismus, Liberalismus und Kommunismus bis hin zum Faschismus waren daher das große Problem der Kirchen der Neuzeit. Denn der Staat beanspruchte seit seinem Entstehen Souveränität, reklamierte, eine eigene, unhinterfragbare Gewalt zu sein und der höchste Ort politischer Entscheidungen und Rechtssetzung.

      Die Institutionen der Religion mussten sich seither in Beziehung setzen zu dieser staatlichen Souveränität, ein Prozess, der sie massiv umformatierte und ihnen enorme theoretische wie institutionelle Transformationsanstrengungen abverlangte und bisweilen immer noch abverlangt. Die staatlichen Souveränitätsansprüche hatten sich schließlich ausdrücklich gegen die Institutionen der Religion, ihre normativen Ansprüche und ihre reale Macht entwickelt. Jean Bodin hatte seine Souveränitätskonzeption angesichts der konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich entworfen, auf der Basis der traumatischen Erfahrung also, dass die Spaltung der Christenheit enorme Gewaltpotentiale freisetzte, eine Erfahrung, die sich später im Dreißigjährigen Krieg noch einmal dramatisch bewahrheiten und verdichten sollte.

      Die katholische Kirche konstituierte sich dabei nach und nach analog zum neuzeitlichen Staatsabsolutismus selbst als absolutistischer Staat. Das Theorem hierfür lieferte Robert Bellarmin mit der Souveränitätskategorie der „societas perfecta“. Das hatte den Vorteil der Gleichrangigkeit gegenüber den entstehenden neuzeitlichen Staaten, aber auch den Nachteil, immer im gewissen Sinne etwas Externes zu sein, solange man nicht selber in einem „katholischen Staat“ an der Macht war. Deshalb favorisierte man diese katholischen Staaten und sehnte sie herbei. Als Nachteil erwies sich schließlich auch, dass man sich mit der Übernahme des staatlichen Absolutismus in die eigene Kirchenstruktur massive Entwicklungshemmnisse einhandelte. Man hatte sich geradezu dogmatisch an diese spezifische Regierungsform gebunden und hatte daher deren Legitimationsdefizite und faktischen Nachteile in späteren, gänzlich neuen und anderen Konstellation zu ertragen beziehungsweise mehr oder weniger geschickt zu kompensieren. Das gilt bis heute.

      Verschärfend kam hinzu, dass man im 19. Jahrhundert den epochalen Fehler begangen hatte, in Reaktion auf die historischen Relativierungen der Geschichtswissenschaften die eigene, in der frühen Neuzeit entworfene und recht eigentlich auch erst im 19. Jahrhundert wirklich durchgesetzte absolutistische Regierungsform ahistorisch zu essentialisieren, wovon man dann natürlich nur noch sehr mühsam und unter enormem legitimatorischen Aufwand wieder herunterkam. Das II. Vatikanische Konzil, das diesen Versuch darstellt, war denn auch das mit Abstand textproduktivste Konzil der Kirchengeschichte. Nachwehen des antimodernistischen „Dispositivs der Dauer“2, das Geschichtlichkeit – und andere analoge Relativierungen – nur als depotenzierenden Relativismus verstehen konnte, erschüttern die katholische Kirche bis heute.

      Die andere große Konfessionskirche der Neuzeit, der Protestantismus, konstituierte sich nicht staatsanalog wie die katholische Kirche, sondern staatsaffin, begriff und entwickelte sich zur Kirche der neuen Staaten. Das hatte den Vorteil, dass man immer à jour war, also kein aggiornamento brauchte, aber auch den Nachteil, dass man in alle Turbulenzen der neuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsgeschichte, inklusive deren totalitären Abgründe, verstrickt wurde und sich deshalb immer mal wieder entschuldigen muss. Der Protestantismus schleppt seit seinem Ursprung in den Reformationen des 16. Jahrhunderts die epochale Belastung mit sich, von externer politischer Protektion abhängig zu sein und seine Universalität landeskirchlich verloren zu haben. Die katholische Kirche nutzte dies denn auch sofort kontroverstheologisch aus, um ausgerechnet die nota ecclesiae „katholisch“ ganz gegen ihren ursprünglichen Sinn zu konfessionalisieren.

      Das Problem des Souveränitätsanspruchs des neuzeitlichen Staates löste die eine Konfessionskirche, indem sie sich zum Staat erklärte und bis heute ja denn auch als Völkerrechtsubjekt agiert, die andere, indem sie sich, gerade in Deutschland, dem real existierenden Staat als dessen moralischer Über- oder Unterbau anbot. So problematisch diese beiden Lösungsmodelle auch waren: Sie haben lange funktioniert. Doch damit dürfte es vorbei sein. Offenkundig hat ein neuer Herrscher die Macht übernommen, die Spitzen von katholischer Kirche und deutschem Staat spüren es.

      2.

      Am 15. Mai 2014 eröffnete der damalige deutsche Bundespräsident und ehemalige protestantische Pastor Joachim Gauck in Wuppertal einen Zukunftskongress der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland). In seiner Rede forderte er von seiner Kirche, es sich nicht zu leicht zu machen in dieser Gesellschaft, vielmehr eine moralische und spirituelle Avantgarde zu sein, eine frische, eigensinnige, von „ihrer Aufgabe zutiefst überzeugte Gemeinschaft“, die „vernehmbar und verstehbar von Gott“3 spreche.

      Gut zweieinhalb Jahre vorher hatte Papst Benedikt XVI. vor dem versammelten deutschen Katholizismus in Freiburg angemerkt, dass Macht die Kirche oft korrumpiere und die Vertreibung der Kirche von der Macht in den Säkularisierungsprozessen der Neuzeit auch ihr Gutes gehabt habe. Die Kirche zeige immer wieder die Tendenz, sich in dieser Welt einzurichten und sich den Maßstäben der Welt zu sehr anzugleichen.4

      Die Ironie der Konstellationen ist nicht zu übersehen: Da fordert ein deutscher Papst, immerhin das letzte absolute Staatsoberhaupt Europas, ausgerechnet vom deutschen Minderheitenkatholizismus Machtverzicht, und ein evangelischer Pastor als Bundespräsident vom Protestantismus mehr Distanz zum Staat. Der Papst als Oberhaupt eines eigenen Staates und der Pastor als Oberhaupt des deutschen Staates sind noch Figurationen der alten konfessionellen Religion-Staat-Konstellation. Aber offenbar merken beide, dass es damit zu Ende geht.

      Sie nennen gute theologische Gründe dafür und auch, warum das Auslaufen dieser Konstellation gar nicht so sehr zu bedauern ist. Nur eine „entweltlichte Kirche“, so Benedikt XVI., könne wirklich offen sein „für die Anliegen der Welt“ und in dieser Welt „die Herrschaft der Liebe Gottes“5 bezeugen. Es ginge in den Kirchen darum, so dann Gauck, uns mit „Maßstäben zu konfrontieren, die oft quer stehen zu dem, was wir uns selber so schön ausgedacht“6 hätten. Das aber sehen beide in der aktuellen Konstellation, die sie selbst doch noch so trefflich verkörpern, gefährdet.

      Warum aber trauen sie den eigenen neuzeitlichen Konzepten ihrer Kirchen nicht mehr so recht: der stolzen katholischen staatsanalogen Institutionalität und dem eindrucksvollen Versuch des Protestantismus, zum eigentlichen, besseren Betriebssystem des modernen Staates zu werden? Bei Gauck scheint es die Ahnung zu sein, sich nicht mehr auf dem Festland unhinterfragbarer Sicherheiten, sondern auf dem offenen Meer einer liquid modernity7 zu befinden. Wir „spüren vielleicht noch mehr, als wir wissen“, so Gauck, „dass sich große Veränderungen vollziehen – und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem ferngesteuerten Schiff sein wollen“8. Die Kirche, so dann der Papst in einem bemerkenswerten Stück Exposure-Theologie, müsse sich „immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen“9.

      Da stellt sich dann freilich die Frage: Wer ist am Ruder dieses ferngesteuerten Schiffs der Gegenwartskultur? Von welchen großen Veränderungen, die eher zu spüren als zu wissen sind, redet man hier? Wem muss man sich „ausliefern“ oder ist man schon ausgeliefert? Wer ist der neue Souverän, der den modernen Staat ablöst und die Kirchen, wie damals

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