Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher

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Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher

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Differenz schlicht nivelliert, sich also der eigenen kapitalistischen Existenz erfreut und etwa den Kirchen entsprechende Anpassungsstrategien empfiehlt.

      Am ehesten noch schließen die vorliegenden Überlegungen an jene christliche Kritiktradition am Kapitalismus an, die dessen kulturelle Konsequenzen problematisiert. Dies soll hier dann freilich jenseits der katholisch lange üblichen, sowohl in einer konservativen wie progressiven Variante existierenden kulturpessimistischen Einfärbung geschehen. Denn die hier vorgelegten Untersuchungen gehen davon aus, dass es aktuell und auf absehbare Zeit kein leicht zu erreichendes Jenseits, keinen „Ort außerhalb“ des Kapitalismus und seiner spezifischen Kultur gibt. Das war noch vor kurzem, etwa vor 1989, anders, als linke, staatskommunistische Alternativmodelle mit freilich sehr begrenzter und zum Schluss rapide sinkender Attraktivität existierten, und es war vor 1933 anders, als rechte, kulturkonservative Konzepte bis hin zu Entwürfen einer „Konservativen Revolution“20 durch die europäischen Faschismen noch nicht desavouiert worden waren.

      Wir erleben zwar nicht das „Ende der Geschichte“, wohl aber auf absehbare Zeit die alternativlose Vorherrschaft des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Ernsthaften Widerstand organisieren gegenwärtig nur noch Fundamentalismen in allen Religionen, speziell aber im Islam. Religiöse Fundamentalismen sind Widerstandsnester vor allem gegen die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus, und viele religiöse Fundamentalismen verstehen sich auch ausdrücklich so. Ihr Widerstand gilt den Auflösungs- und Emanzipationseffekten alter ständischer Ordnungen, speziell im Bereich der Geschlechterbeziehungen, bisweilen zielen sie aber auch auf die Ungerechtigkeitseffekte und die Egoismusorientierung des Kapitalismus. Dass, so etwa im Islamismus, Selbstmordattentate die bevorzugten Mittel dieses Kampfes sind, zeigt, wie aussichtslos er ist, ganz zu schweigen von der abstoßenden Brutalität und Grausamkeit, mit welcher der religiöse Fundamentalismus ihn führt. Der gesellschaftliche Rückweg in vormoderne religiöse Bindungskulturen führt, nachdem die kapitalistischen Freiheiten gekostet wurden, notwendig in brutalste Unterdrückungsregime.

      Es hilft nicht wirklich weiter, die Existenzprobleme des Christentums im Kapitalismus diskursiv zu exterritorialisieren und so zu tun, als ob er die anderen, aber nicht einen selber beträfe. Es wäre nicht nur eine bemerkenswert unsolidarische Strategie gegenüber allen jenen, die vom Kapitalismus affiziert sind; die Herrschaft des Kapitalismus ist vor allem zu alternativlos und zu invasiv, als dass dies möglich wäre. Es führt übrigens auch nicht viel weiter, den Kapitalismus und seine kulturellen Effekte zu totalisieren und zu dämonisieren. Dann wäre es nicht nur nutzlos und jedenfalls folgenlos, sich die Mühe zu machen und ein Buch über diese Konstellation zu schreiben, man müsste auch davon ausgehen, dass die kapitalistische Kultur selbst das noch in sich aufnehmen und für sich nutzen würde.

      Nun ist es ohne Zweifel eine der herausragenden Eigenschaften des Kapitalismus, tatsächlich auch seine Gegner für sich einzusetzen: eher wenig subtil, indem er sie kauft, subtiler, indem er deren Widerstandsenergie umleitet und zur eigenen Optimierung und Innovation nutzt. Aber: Schon rein theologisch betrachtet, ist der Kapitalismus immer noch ein irdisch’ Ding, auch wenn er sich zunehmend mit religiöser Aura umgibt und in religiösen Codes formatiert und wenn er auch tatsächlich immer tiefer eindringt ins Konstitutionssystem menschlicher Existenz. Er ist dennoch nicht Gott, mag er sich noch so sehr viele der ehemals von Religionen ausgefüllten Funktionen aneignen. Wenn er aber nicht Gott ist, dann mag er dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht. Die Allmachtsbehauptung und jene Alternativlosigkeit ist schon eine seiner Macht- und Verführungsstrategien, so etwa, wenn er den Menschen als homo oeconomicus des permanent kalkulierenden Eigeninteresses definiert.

      Spezifische Befreiungswirkungen des Kapitalismus sollen auch nicht übersehen werden. Was die Kirchen lange verurteilten und später beklagten, die Befreiung aus den vormodernen ständischen Schalen des Geschlechts, der Religion, der Geburt, das stellt sich unter der Perspektive von Menschenrechten und Menschenwürde als Fortschritt dar. Die Lage ist mithin ambivalent. Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa, also die Auflösung der Zwangskopplung von Frauenbiographien an Männerbiographien, sie wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben. Immerhin bildete das Konzept „Natürliche Gleichheit aller Menschen und natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ so etwas wie den „paradoxe(n) Kanon des 19. Jahrhunderts“, der „bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich bleibt“21. Diese Selbstwidersprüchlichkeit wurde weder vom Menschenrechtspathos der Aufklärung noch gar von der christlichen Nächstenliebe angetastet; es war die kapitalistische Marktintegration ehemals marktferner gesellschaftlicher Gruppen, neben den Frauen gilt dies etwa auch für die Landbevölkerung und ältere Menschen, die deren traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse lockerte. Diese Gruppen waren es freilich auch, die, gerade im katholischen Bereich, am längsten noch kirchliche Partizipation pflegten.22

      6.

      Wenn man sich als christlicher Theologe weder auf orthodoxkommunistische noch auf konservativ-reaktionäre alternative Gesellschaftsmodelle zurückziehen will, noch das Problem des Kapitalismus durch Exterritorialisierung verdrängt, so als ob man selber von ihm nicht betroffen wäre, aber auch nicht einfach ein Dokument der Kapitulation produzieren möchte, das durch Totalisierung und Dämonisierung des kulturell hegemonialen Kapitalismus vor ihm in die Knie geht, und zudem als praktischer Theologe auch nicht einfach nur die christliche Tradition in irgendeiner Weise verstehbar und plausibel halten will in kapitalistischer Zeit, wie es die Aufgabe der Systematischen Theologie ist und begnadeter Prediger und Predigerinnen: Was ist dann noch möglich?

      Es bleibt, was sich eröffnet, wenn man die Frage nach dem Christentum im kulturell hegemonialen Kapitalismus stellt und dabei nicht meint, die Kritik des Kapitalismus wäre schon eine hinreichende Antwort. Es bleibt der schmale Grat zwischen Distanzierung und Affirmation, zwischen Entsolidarisierung und Sich-Einpassen ins kapitalistische Dispositiv, zwischen Kritikgewissheit und gleichzeitiger Übernahme kapitalistischer Prinzipien und Muster.

      Sollen diese Gefahren vermieden werden, braucht es einige Analysen. Diese betreffen den kulturell hegemonialen Kapitalismus selbst, seine Strukturen und Wirkungsweisen. Sie betreffen die Formatierung der religiösen Landschaft im Kräftefeld des Kapitalismus und die Reaktionsmuster der wissenschaftlichen Theologie in diesem Kräftefeld. Dann aber kann Ausschau gehalten werden nach Konzepten, mit dem so beschriebenen Problemfeld von Christentum und Kapitalismus umzugehen. Solche Konzepte finden sich, nicht zuletzt in im engeren Sinne nicht-theologischen Diskursen postmoderner Neo-Marxisten. Doch auch das Archiv der christlichen Praktiken und Diskurse wird exemplarisch befragt werden und eröffnet praktischtheologische Überlegungen eines vielleicht weiterführenden Umgangs mit dem kulturell hegemonialen Kapitalismus.

      Eine Voraussetzung ist dabei freilich nicht zu umgehen: Die bisherigen Konstellationen des Christentums sind an ein wirkliches Ende gekommen. Die radikale Dekonstruktion des Christentums im kulturell hegemonialen Kapitalismus muss ohne Wenn und Aber realisiert und akzeptiert werden und auch die Hilflosigkeit, die sich daraus ergibt. Weder bloße „optimierte“ Weiterverwaltung, das geläufige Konzept der Kirchen, noch die Resignation vor der Möglichkeit, dass die christliche Tradition auch in der Gegenwart noch eine Differenz setzt, die einen wirklichen Unterschied ausmacht, sind theologisch mögliche Strategien.

      Dass die Ausführungen dieses Buches vorwiegend jene Region im Blick haben, in der und für die sie geschrieben sind, mit der aber auch alles begann, wurde bereits im Vorwort angemerkt und auch, dass sie von einem katholischen Theologen geschrieben wurden. Der vergleichende Blick wird freilich bisweilen über Europa und die katholische Kirche hinausgehen. Denn der globale Kapitalismus umstellt, umgibt und durchdringt alles. Aus seiner Perspektive, aus der Perspektive des nun herrschenden Souveräns, sind die internen Differenzierungen seines Vor-Vorgängers relativ nachrangig, wie übrigens auch dessen legitimatorischen Diskurse. Beides trifft nicht ganz zufällig übrigens auch für die meisten Christinnen und Christen23 zu: ein unübersehbarer Beleg, wer regiert.

      II.

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