Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher

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Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher

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auch ihre Ziele und die Diskurse ihrer Legitimation und Konzeption. Die zentralen Begriffe kirchlicher Pastoralmacht – etwa Heil, Glück, Erlösung – werden dabei nicht ausgetauscht, vielmehr grundlegend neu interpretiert.

      Das Ergebnis ist eine Machtformation, die eine in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bislang unerreichte und ungemein erfolgreiche Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren realisiert, und das innerhalb ein und derselben politischen Struktur. Der moderne abendländische Staat integriert die alte christliche Machttechnik der Pastoralmacht in eine neue, effektive politische Form. Die aktuellen, staatlichen wie kommerziellen Überwachungskonglomerate, so wird man Foucault weiterführen können, treiben diese Doppelbewegung von Individualisierung und Totalisierung auf eine neue Spitze.14 Was ist der Beichtstuhl gegen die NSA oder Facebook und Google? „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.“15

      Die Dopplung von unterworfenem sujet und selbstbewusstem Subjekt verschiebt sich unter der Dominanz der aktuell herrschenden (neo-)liberalen Konzepte immer mehr in Richtung des Pathos eines „freien“ Subjekts. „Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind“, so Byung-Chul Hans an Foucault anknüpfende Analyse. Sie beschreibt, was neuerdings passiert. „Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung.“16

      Denn der aktuell dominierende (Neo-)Liberalismus verwischt die Differenz von Hirten und Schaf, das nun zum „Hirten seiner selbst“ wird oder mindestens werden soll. Das Subjekt wird immer stärker sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig, wird verantwortlich dafür gemacht, seine selbst gesteckten Ziele und darin Zufriedenheit zu erreichen. Inwieweit das Subjekt dennoch weiterhin auch Objekt des Regierens bleibt, obwohl oder gerade weil und indem es sich selbst zum Gegenstand und Mittel der Regierungspraktiken macht, wird noch zu betrachten sein.

      2.

      Wie werden wir regiert? Einerseits sind da die fürsorgliche Pastoralmacht des Staates, sein Recht und seine Überwachungskapazitäten, seine Fürsorge und seine Sanktionsmacht, andererseits aber wirkt da in und hinter all dem die subtile Steuerungstechnik des Kapitalismus. Der aber steuert nicht primär über Gehorsam, auch nicht zuerst über das Pastoralmachtdoppel von Bewachen und Überwachen, sondern über die Steuerung von Sehnsüchten.

      Bislang wurde der Kapitalismusbegriff in diesen Überlegungen mit Nancy als „ökonomische Verwaltung der Welt“ definiert und eingeführt. Als ökonomisches System basiert der Kapitalismus auf drei, eigentlich recht einfachen Prinzipien: „Erstens beruht der Kapitalismus auf individuellen Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen“, die zu „Resultaten“ führen, „sowohl Gewinnen als auch Verlusten, die Individuen zugeschrieben werden“17. „Zweitens findet im Kapitalismus die Koordinierung der verschiedenen wirtschaftlichen Akteure vor allem über Märkte und Preise, durch Wettbewerb und Zusammenarbeit, über Nachfrage und Angebot, durch Verkauf und Kauf von Waren statt. Das ‚zur Ware werden‘, die Kommodifizierung von Ressourcen, Produkten, Funktionen und Chancen ist zentral.“18 Drittens aber „ist Kapital grundlegend für diese Art des Wirtschaftens. Das impliziert Investition und Reinvestition von Ersparnissen und Erträgen in der Gegenwart im Streben nach Vorteilen in der Zukunft.“19 Den Kapitalismus zeichnet, so Jürgen Kocka in seiner Geschichte des Kapitalismus, individuelles Gewinnstreben, Marktkoordination und Zukunftsorientierung aus.

      Das bricht mit einigen bis dorthin ziemlich ungeteilt geltenden Logiken. Der Kapitalismus wechselt von der altruistischen Ansprache an die Menschen zum Appell an seinen Egoismus, er ersetzt die konkrete Benennung und Markierung von Herrschaft (Gott/Obrigkeit/Vater) durch eine anonyme (der „Markt“ und die Wirkungen seiner „unsichtbaren Hand“), und er tauscht die klassische legitimatorische Ursprungsorientierung traditionaler Gesellschaften mit einer gegenwartsbasierten Zukunftsorientierung aus: Man muss sich heute anstrengen, damit es einem morgen besser geht – und dieses Morgen kann schnell kommen. Der Kapitalismus befreit damit vom moralischen Zwang zum Altruismus, von herkömmlichen Herrschaftsträgern und von Traditionsorientierung. Er entwickelt darin eine ungeheure Faszination und eine beispiellose Dynamik.

      Lange wollte man gerade diesseits des Marxismus glauben, dass dieser fundamentale Bruch mit bisherigen gesellschaftlichen Prinzipien nicht auf das Selbst des Individuums zurückschlägt, sondern durch spezifische Techniken von ihm ferngehalten werden könne. Die Fiktion konnte aufrechterhalten werden, weil die alten Mächte, die religiösen vor allem, aber auch die alten Ethiken im Kontext des Kapitalismus nicht verschwanden, sondern in spezifischen Diskursen und vielfältigen, etwa kirchlichen, pädagogischen und auch militärischen Dispositiven überlebten, ja, wie etwa die katholische Kirche während der Pianischen Epoche, in reaktiver Verhärtung zumindest intern ganz besonders wirkmächtig wurden.

      Nimmt man nun aber in strukturalistischer Tradition an, dass das Subjekt nicht das letztlich unberührte und unschuldige Gegenüber der Macht sei, sondern selbst ein Produkt von Machtprozessen, ja, dass das Konzept „Subjekt“ selbst erst in den modernen (Human-)Wissenschaften entsteht und sich zeitgleich mit dem modernen Kapitalismus durchsetzt, dann stellt sich die Lage gänzlich anders dar. Das Subjekt jedenfalls, so Foucault, ist nicht das ganz Andere zur Macht, ist nicht der Ort der reinen Authentizität und Identität, sondern eben etwas, das in spezifischen Machtstrukturen auftaucht und überhaupt erst wird.

      Für Foucault sind die Idee eines autonomen Subjekts oder das Ideal einer Gemeinschaft von autonomen Subjekten illusionär. Die Konstituierung von Subjektivität ist Produkt eines schöpferischen Aktes, der je nach Machtkonstellationen aus jeweils anderen Quellen schöpft. Foucault spricht von einer „Serie unterschiedlicher Subjektivitäten“20, die wir sind, die wir jeweils in unseren Machtrelationen aktuell realisieren und deren Summe uns ausmacht. „Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals an ein Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre.“21

      In Foucaults Tradition bestimmt Ulrich Bröckling „Subjektivierung als einen Formungsprozess, bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“22. Zwar gilt: „Die Genealogie der Subjektivierung lässt die Unterscheidung von Innen und Außen nicht fallen“. Aber „statt Höhlenforschung oder Innenarchitektur der Seele zu betreiben, fragt sie danach, welche Wissensdispositive und Verfahren Menschen veranlassen konnten und können, ihr Selbstverständnis in dieser Weise topografisch zu bestimmen. Sie untersucht, wie ein Innen sich konstituiert, ohne es immer schon vorauszusetzen.“ Denn das „Innere ist nichts anderes als ein auf sich selbst zurückgewendetes Äußeres – und umgekehrt“23. Das Subjekt ist in dieser Perspektive eine „Entität, die sich performativ erzeugt, deren Performanzen jedoch eingebunden sind in Ordnungen des Wissens, in Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“24. Das Subjekt gibt es „im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend“25.

      Die konkreten „Ordnungen des Wissens“, die realen „Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“ sind nun aber in unseren Breiten und Gegenden derart vom Kapitalismus geprägt, dass das Selbst, so Bröckling, als „unternehmerisches Selbst“ beschreiben werden kann und muss. Das unternehmerische Selbst steht dabei „für ein Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen“. Es besteht „aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“26.

      Das unternehmerische Selbst ist ein Subjektivierungsprogramm, dessen „Anrufungen“, so Bröckling, nichts weniger als „totalitär“ sind. „Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung,

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