... wenn nichts bleibt, wie es war. Rainer Bucher
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So unterschiedlich all diese Phänomene sind, sie haben eines gemeinsam: Sie kamen ziemlich unerwartet und waren jeweils noch kurz vorher kaum vorstellbar. Natürlich war die Zukunft immer schon ungewiss, praktisch unvorstellbar aber ist sie erst seit kurzem. Alles spricht dafür, dass es damit nicht vorbei ist. Es wird damit weitergehen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen wird. In 25 Jahren wird uns vieles überrascht haben und wir können uns heute noch nicht einmal vorstellen, was es sein wird. Was wir uns heute vorstellen, dass es kommen wird, wird nicht das sein, was kommen wird: Das lehren die letzten Jahrzehnte. Dass Neues kommt, wussten Menschen schon immer, dass das Neue aber mitunter weit außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt, das ist wirklich neu. Die zentrale spätmoderne Erkenntnis besteht darin, dass es anders kommen wird als geplant, weil es anders ist, als wir denken, und die Zukunft zwar die Folge unserer Projekte sein wird, aber diese Folgen ganz andere sein werden, als man erwartete.3
Zum Verstörendsten an solcherart Neuem zählt, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Am »Automobil«, dem teuersten Konsumprodukt unserer Gesellschaft, kann man das gut demonstrieren. Sein Name – das »Sich-selbst-Bewegende« – markiert bis heute eine Differenz zur Kutsche, die ohne Pferd schlicht nur herumstehen konnte. Die ersten »Autos« sahen denn auch tatsächlich noch aus wie Kutschen ohne Pferde. Heute aber ist am Automobil vieles interessant und spannend: dass es »sich selbst bewegt« eher nicht, das ist zur Selbstverständlichkeit geworden.
Die Entdeckung von wirklich Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen: Zuerst ist da die schiere Erfahrung, dass etwas da ist, was so noch nicht da war, und das deswegen irritiert und fasziniert. Es wird hier noch mittels der Differenz zum bisher Gewohnten benannt. Nach und nach setzt sich dann die Einsicht durch, dass es sich wirklich um etwas Neues handelt. Man merkt: Das Auto ist viel mehr als eine Kutsche ohne Pferde. Dann erst folgt aber, was am schwierigsten ist: die nie abgeschlossene Entdeckung des Neuen unter wirklich neuen, erst zu entwickelnden Kategorien. Um im Beispiel zu bleiben: Was bedeutet es sozial, technisch, ökonomisch, ökologisch, landschafts- und städteplanerisch, eine Gesellschaft umfassend per Auto zu mobilisieren?
Kolumbus zum Beispiel kam nicht wirklich über Phase eins hinaus. Er sah Land am Horizont und erkannte auch nach und nach, dass es nicht Indien war, wo er gelandet war, hielt es aber für etwas bereits anderweitig Bekanntes: für Asien.4 Er segelte übrigens gegen die sehr gut begründeten Widerstände der Geografen los, welche den Erdumfang recht korrekt berechnet hatten und ihm völlig zu Recht vorhersagten, dass er nicht herumkäme um die Erde mit seinen kleinen Schiffen. Dass zwischen Europa und Indien noch »Amerika« lag, wussten beide nicht und wurde erst Jahre später erkannt. Manchmal führen kreative Fehler zur Entdeckung ganzer Kontinente. Hätte Kolumbus entdeckt, wo er gelandet war, wäre das erst die wirkliche Entdeckung des Neuen als etwas Neuem gewesen, Phase drei wäre dann die Einsicht gewesen, dass die Entdeckung neuer Kontinente auch die alten nicht unverändert lässt, eine Erfahrung, die Europa seitdem bis heute macht.
Dass das Neue selbst erst in seiner Neuheit entdeckt werden muss, ist die Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit – zumindest unter irdischen Normalbedingungen – immer in eine Richtung verläuft. Wir können nicht, wie etwa Gott, aus der Zukunft in die Vergangenheit schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit entgehen.
2. Kulturelle Revolutionen
Unter der Benutzeroberfläche unseres Alltags werden seit einiger Zeit permanent neue Programme installiert, ohne dass die Programmierer wissen können, wohin das führt. Das geschieht zumeist knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; wenn wir es merken, ist es schon passiert. Auch das trägt dazu bei, dass das Leben heute sich vom Leben unserer Großeltern fundamental unterscheidet.
Diese kulturellen Revolutionen kommen zuerst eher leise daher, das ist eines ihrer postmodernen Erfolgsgeheimnisse. Die Gegenwart – das ist, im Unterschied zur klassischen Moderne, die Zeit der Revolutionen, die schon mehr oder weniger durchgesetzt sind, wenn sie bemerkbar werden. So beginnen wir erst zu ahnen, was die Umwälzungen der späten Moderne bereits alles auf den Kopf gestellt haben und noch auf den Kopf stellen werden.
Die kulturellen Basics unserer Existenz verändern sich unter der Oberfläche einer gewissen Kontinuitätsfiktion seit einiger Zeit fundamental, im Wesentlichen wohl immer noch durch einen einzigen Prozess: Der Bereich des Kulturellen – und damit als veränder- und verfügbar Definierten – weitet sich dramatisch aus. Das geschieht durch zwei miteinander verschränkte Prozesse: durch die Überführung von bislang als »natürlich«, also unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren und durch die massive technologische Erweiterung dieses Bereichs.
Für die Überführung von bislang als natürlich, unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren steht exemplarisch der Wandel des Geschlechterverhältnisses. Bis vor kurzem sprach man inner- und außerkirchlich ganz selbstverständlich vom angeblich unwandelbaren, ewigen »Wesen der Frau«, das sie »natürlicherweise« zur dienenden Partnerin des Mannes mache. Das ist inzwischen als eine für lange Zeit sehr erfolgreiche Männerphantasie durchschaut.
Für die Erweiterung des Bereichs des kulturell Gestaltbaren durch dessen technologische Expansion stehen exemplarisch die neuen digitalen Medien und die Biotechnologie. Es gibt natürlich auch kulturelle Revolutionen, in denen sich technologische Expansion und kulturelle Dekonstruktion von bisher Unantastbarem überschneiden. In den konkreten kulturellen Revolutionen der Gegenwart verschränken sich zumeist die Erweiterung des Bereichs des Gestaltbaren und die schiere Reichweitenexpansion menschlichen Handelns.
Die Medienrevolution etwa vollzieht sich primär als technologische Revolution, ist aber natürlich weit mehr als das. Die »Neuchoreografie der Geschlechterrollen« vollzieht sich primär als Entlarvung von scheinbar »Natürlichem« und »Gottgewolltem« als etwas Veränderbares, aber auch sie ist mehr als das, ist eine wirkliche Neuchoreografie und bringt daher die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zum Tanzen.5 Es ist kein Zufall, dass praktisch alle religiös-fundamentalistischen Bewegungen die Autonomie weiblichen Handelns massiv einschränken wollen.6
Die ökonomische Globalisierung aber ist ganz offenkundig und unmittelbar die Folge der Kombination von beiden Elementen des kulturellen Expansionsprozesses. Während sich die Medienrevolution technologisch verkauft und vermarktet, aber weitreichende Verflüssigungskonsequenzen für bisherige kulturelle Unverrückbarkeiten nach sich zieht, die Revolution der Geschlechterrollen vor allem als Destruktion bislang gültiger Unwandelbarkeiten und ihre Überführung in Gestaltbares daherkommt, ihre Basis aber in der realen Ausweitung weiblicher Autonomie durch qualifizierte Erwerbstätigkeit hat, ist die ökonomische Globalisierung von vorneherein auf dem Feld der Politik, der Macht, der ökonomischen wie der politischen Imperien angesiedelt.7
Dass sich die Gestaltungsreichweite des Menschen dramatisch durch die Entlarvung von Natürlichem als kulturell Gestaltbares und durch die Überführung von Fernem in Erreichbares erhöht, ist nichts wirklich Neues. Das geht schon lange so, seit mehreren Jahrhunderten. Das Neue dürfte aber darin liegen, dass der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte.
Dies alles bedeutet nichts weniger als das faktische und unabweisbare Ende lang anhaltender und bis heute wirksamer Grundannahmen über unsere zeitliche Situierung. Nach Hartmut Rosa erleben wir gegenwärtig »das Ende der verzeitlichten Geschichte der Moderne, d.h. das Ende einer Zeiterfahrung, in der die historische Entwicklung ebenso wie die lebensgeschichtliche Entfaltung als gerichtet und kontrollierbar … erscheinen.«8