... wenn nichts bleibt, wie es war. Rainer Bucher

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Man kann ihr auch nicht, und das ist die dritte und meistgenutzte Fluchtmöglichkeit, durch Rückzug in eigene Konventikel und mehr oder weniger geschlossene Plausibilitätsgemeinschaften entfliehen. Politik ist nicht das Verwalten und gelegentliche Umformatieren des Gewohnten. Auch aus diesem Schlaf des Unpolitischen haben der 11. September und die Finanzkrisen gerissen. Die Politik schlägt zurück in der einen Welt, in der wir sind und die uns nie und nimmer in Ruhe lässt.

      Wenn dem aber so ist, wenn der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte, wenn wir also tatsächlich in ziemlich neuen kulturellen Gegenden leben, dann hat das Konsequenzen für das Nachdenken über Lage und Aufgabe der Kirche heute und gar über ihre Zukunft. Denn »(d)amit driftet die Inkulturation des Evangeliums hierzulande aus ihren modernen Festkörpern hinaus aufs offene Meer: (…) Nicht die Dialektik von Kontinuität und Unterbrechung, sondern das Ereignis, der jeweils nächste Schritt in einem unsicheren Gelände, wird zum neuen Inkulturationsort des Evangeliums.«10

      Wenn

      – die »post-modernen« Denker im Gefolge Nietzsches darin übereinkommen, auf der Basis ihres nüchternen Blicks auf die sich selbst zum Problem und illusionslos gewordene Moderne eines jedenfalls nicht mehr zu liefern, nämlich Stärke, Sicherheit und Ordnung,

      – wenn immer plausibler wird, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie die Moderne es uns versprechen wollte,

      – wenn wirklich gilt, dass die anti-dynamischen Nachfolgekonzeptionen der Vormoderne ebenso obsolet geworden sind wie die dynamisch-utopischen Fortschrittskonzeptionen der Moderne,

      – wenn die eigentliche Aufgabe der Gegenwart nicht darin besteht, neue Kontinente zu entdecken, sondern zu entdecken, wo wir eigentlich gelandet sind,

      – wenn also die heutigen Zeiten so neu sind, dass wir noch gar nicht begriffen haben, wie neu sie sind, und ebendieses Nichtbegreifen, genauer: die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Nichtbegreifens das Neue darstellt,

      dann muss eine dieser und nicht einer abstrakten Gegenwart verpflichtete Kirche vor allem eines sein: neugierig, aufmerksam und sensibel. Denn sonst weiß sie weder, an wen sie sich wendet, noch, wo sie überhaupt ist, noch, was das, was sie ihr zu sagen hat, für diese Gegenwart wirklich bedeutet.11

      II. Die Vertreibung von der Macht

      »Der Problemhorizont religiösen Erlebens ist die individuelle Lebensführung«.

      Armin Nassehi1

       1. Drei Thesen zur Erklärung der Lage der Religion

      Dafür, wie man es mit der Religion in unseren Breiten hält, stehen gegenwärtig im Wesentlichen drei Erklärungsversuche zur Verfügung: die schon etwas ältere Säkularisierungsthese, die auch nicht mehr ganz junge Individualisierungsthese und die 2001 von Jürgen Habermas in Umlauf gebrachte »Postsäkularitätsthese«. Für alle drei Erklärungsansätze spricht einiges.

      Die Säkularisierungsthese2 behauptet, dass Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen ausüben. Dafür gibt es einige Belege, vor allem wenn man, etwas enger, unter »Säkularisierung« das unbestreitbare gesellschaftsstrukturelle Phänomen versteht, dass religiöse Gehalte und Geltungsansprüche in den Privatbereich ausgelagert und im öffentlichen Bereich weitgehend neutralisiert werden.

      Unter dieser Rücksicht sind westeuropäische Gesellschaften tatsächlich mehr oder weniger strukturell säkularisiert. Das muss man auch überhaupt nicht bedauern. Im Gegenteil: Der heiße historische Kern des europäischen Säkularisierungsprozesses sind schließlich die vielen Toten, welche die Religionskriege der frühen Neuzeit kosteten. Kein Wunder, dass danach die Gesellschaft begann, immer mehr ihrer Handlungssektoren religionsunabhängig zu machen. Das schafft Freiheit, auch den Mächtigen der Religion gegenüber: Alles andere nennen wir seit einiger Zeit im Übrigen Fundamentalismus.

      Europäische Gesellschaften sind mit wenigen Ausnahmen3 freilich alles andere als säkularisiert, wenn man unter »Säkularisierung« die generelle Neutralisierung religiöser Gehalte, ihr grundsätzliches Verschwinden oder ihre generelle Entplausibilisierung in der Bevölkerung auf der Ebene der Einzelpersonen versteht. Schaut man sich die entsprechenden Daten an,4 dann gilt: Die christlichen Kirchen und zunehmend auch andere Religionsgemeinschaften bleiben wichtige Quellen individueller Lebensorientierung und Daseinsbewältigung, freilich unter der situativen Vorbedingung der Freiheitslogik der Einzelnen. Oder anders gesagt: Jeder hat die »säkulare Option« (Hans Joas). Die primäre Auseinandersetzungsebene um die Religion in europäischen Gesellschaften liegt im Übrigen weder auf der Ebene der strukturellen Säkularisierung noch auf jener der individuellen Freiheitslogik des Religiösen. Die Konflikte um die Religion vollziehen sich vielmehr zumeist im kulturellen Bereich der Werte, Normen und sozialen Objektivationen.

      Die Individualisierungsthese, spätestens seit der Schweizer Studie »Jeder ein Sonderfall« aus dem Jahre 19935 religionssoziologisch sehr präsent, geht davon aus, dass »nicht ein Verlust von Religion – wie die Entwicklung von den Kirchen gerne wahrgenommen wird – stattfindet«, man vielmehr von einer »Neustrukturierung des Religionssystems und eine(r) Änderung der Äußerungsformen von Religion«6 ausgehen müsse. Diese aktuelle Umstrukturierung des Religionssystems vollziehe sich dabei offenkundig »am Leitfaden des Ichs«. Religion verschwinde also nicht in der späten Moderne, sie transformiere sich, sie werde vielmehr zum individuellen Projekt, das man je nach Lebenswegstrecke neu zusammenstellt.

      Auch für diese These spricht einiges. Schließlich produzieren die erzwungenen Wahlbiografien der Gegenwart einen hohen Kontingenzbewältigungsbedarf. Wer viel entscheiden kann, muss viel entscheiden, riskiert viel und muss sich seine Entscheidungen auch noch anrechnen lassen. Wir leben tatsächlich emotional und sozial ziemlich absturzgefährdete Risikoexistenzen, zumindest wird das subjektiv so wahrgenommen. Wenn die Biografie immer mehr zum letzten Ort wird, an dem die disparaten Teile der Gesellschaft noch verbunden werden können und müssen, dann ist die Individualisierung von Religion nicht die Folge egozentrierten Hochmuts, wie das innerkirchlich bisweilen kommuniziert wird, vielmehr die unmittelbare Konsequenz der gesellschaftlichen Situation, in der wir leben.

      Bleibt die These von der »Postsäkularität«, prominent vorgelegt von Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede 2001.7 Es formuliert sich hier die Erkenntnis, dass die Religion »Ressourcen« für die individuelle Lebensführung, aber auch für Legitimation und Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates bereithält, die ohne Religion nicht so einfach zur Verfügung stehen, oder, anders gesagt, dass religiöse Sprache nicht verlustfrei in nicht-religiöse Sprache übersetzt werden kann.

      Das Europa der globalisierten Ära wird zudem mit Phänomenen der public religions8 konfrontiert, also einer neuen und neuartigen Sichtbarkeit des Religiösen im öffentlichen Raum. Moderne Gesellschaften sind ökonomisch und medial globalisiert, haben das Christentum als gesellschaftliche wie individuelle Herrschaftsreligion entmachtet und vertreten gleichzeitig die aktive Religionsfreiheit: Unter diesen Bedingungen kann man den öffentlichen Zeichen und Praktiken der Religionen nicht ausweichen.

      Alle drei Ansätze zur Erklärung der religiösen Lage unserer Gesellschaft beschreiben reale Phänomene. Sie sind auch trotz ihrer diskursiven Alternativstellung durchaus harmonisierbar. Der zentrale Befund im Feld des Religiösen dürfte sein, dass sich Religion offenbar zunehmend nach jenem Muster vergesellschaftet, nach dem in dieser Gesellschaft

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