... wenn nichts bleibt, wie es war. Rainer Bucher
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Zentrale Bezugsgröße der Kirchenmitgliedschaft war also nicht mehr die römisch-katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze, sondern der überschaubare Nahraum einer kommunikativ verdichteten, letztlich nach dem Modell einer schicksalhaft verbundenen Großfamilie gedachten »Gemeinde«. Soziologisch angesiedelt jenseits der Mikroebene der Primärbeziehungen, aber diesseits der Makroebene einer »anonymen« Gesellschaft, wurde die »Gemeinde« zur Hoffnungsträgerin einer sich erneuernden Kirche. Es winkte das Versprechen einer Kontrastgesellschaft gegen die zweckrationale Außenwelt, aber auch gegen die vorkonziliare römisch-katholische Welt. Aus diesen Gegensätzen bezog der gemeindetheologische Diskurs viel von seinem attraktiven Kontrastpathos.8
Diskursive Marker dieses Wechsels waren neben dem Kontrast von »Gemeinde« und »Pfarrei« Formeln wie: »Die Gemeinde ist Subjekt der Pastoral« versus die »Gläubigen als bloße Objekte der Seelsorge« oder »der reife, mündige, denkende, … freie, dabei fromme, gläubige Christ« versus den »hörende(n), blind-gehorchende(n) unkritische(n), problemlose(n), sogenannte(n) ›einfache(n)‹, schlichte(n) Christ(en)«.9
2. Genese der Gemeindetheologie
Katholischerseits kommt man erst recht spät zum Konzept der überschaubaren, kommunikativ verdichteten Gemeinde. Überschaubarkeit wird zwar für die katholische Pastoralmacht zu Beginn der Neuzeit eine immer wichtigere Zielgröße, das Konzil von Trient (1546–1563) ordnete »die Pfarrseelsorge neu, indem es ›Hirt und Herde‹ (Pfarrer und Pfarrei) in ein überschaubares Zueinander bringt.«10 Die Gemeindegröße war bis dahin offensichtlich nie thematisiert worden. »Eine bewusst gewollte Überschaubarkeit … ist für die städtische Bischofskirche der Spätantike keine Kategorie«. Bis Trient galt: »Wer intensiver, überschaubarer und personenzentriert christliche Gemeinschaft leben will, zieht sich ins Kloster zurück.«11
Es hat gedauert, bis die quasi-familiär verbundene Gemeinde zur Basis katholischen Organisationsdenkens wurde. Erst Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts setzte sich diese Variante der Gemeindetheologie endgültig durch, dann aber recht schnell. Durch die Bildung verdichteter, überschaubarer Gemeinschaften unterhalb der Pfarrebene wollte man jetzt dem einsetzenden kirchlichen Erosionsprozess gegensteuern. Der gemeindetheologische Diskurs reagiert deutlich auf die Säkularisierungserfahrung des sich auflösenden katholischen Milieus. Für Klostermann spielt die These, »dass im allgemeinen der Kirchenbesuch mit der wachsenden Pfarreigröße abnimmt«, eine zentrale Rolle in der Begründung seines gemeindetheologischen Projekts. Er entwickelt aus diesem Befund »die pastorale Notwendigkeit von Pfarrteilungen bzw. gemeindlichen Substrukturen unserer städtischen Großpfarreien« und fordert die »Erhaltung der Kleinpfarreien … als echte Gemeinden«, auch »auf dem Lande«12.
Der gemeindetheologische Diskurs knüpft an die Tradition des genuin anti-liberalen, demokratie-kritischen »organischen Denkens«13 der Zwischenkriegszeit an, wie es innerkirchlich Romano Guardini exemplarisch formuliert hat und wie es zusammengefasst werden kann in der Maxime: »Nicht mehr das subjektiv-individualistische Denken herrsche vor, sondern eine organisch geprägte Form, in der die Kirche als Gemeinschaft der Vielen entdeckt wird, geeint in Gott«14.
Die Gemeindetheologie startet als ungemein wirkmächtiger Diskurs. Wahrscheinlich war Pastoraltheologie seit Maria Theresias Zeiten nie so einflussreich. Konzeptionell war dieser Diskurs zumindest im deutschsprachigen Raum bis in die Mitte der 1990er Jahre praktisch alternativlos, mag auch die Realität schon länger anders ausgesehen haben.15
3. Das Scheitern
Ohne Zweifel besitzt die Gemeindetheologie echte Verdienste. Sie war ein Fortschritt in ihrer positiven Sicht der gläubigen Subjekte, in ihrer beginnenden Überwindung eines patriarchalen bis paternalistischen pastoralen Umgangsstils und in ihrer Option für eine basisnahe Sozialform von Kirche. Ein zentrales Problem war die Priorität der Vergemeinschaftungsorientierung und die Nachrangigkeit der Aufgabenorientierung, dies etwa im Unterschied zu den »Basisgemeinden« Lateinamerikas.16 Nichts zeigt dies übrigens besser als das zentrale Leitwort dieses Ansatzes, die »lebendige Gemeinde«. Sie benennt weder Ziel noch Zweck der Verlebendigungsbemühungen und selbst jene, die sie leisten sollen, werden nicht erwähnt. Nicht die Sozialform steht im Dienst der Gläubigen, sondern diese im Dienst der Sozialform. Es ging also in typischer deutscher Tradition vor allem um Gemeinschaftsbildung und -erfahrung.17
Die Gemeindetheologie war der letzte Ausläufer des tridentinischen Projekts. Wie dieses suchte sie den Erosionsprozessen kirchlicher Sozialräume durch Verdichtung, Formierung und Überschaubarkeit gegenzusteuern, wenn auch diesmal unter typisch modernen Kategorien wie »Mündigkeit«, »Subjekt« und »Modernität«. Dies geschah auf familiaristischer Basis, schien doch damals die Familie die letzte stabile Sozialform der Moderne. Aber wie sich auch an der »Pfarrfamilie« erweisen sollte: dem war nicht so.
Der Versuch, die katholische Kirche von einer amtszentrierten Heilsinstitution zur quasi-familiären gemeindlichen Lebensgemeinschaft umzuformatieren, ist denn auch nicht am Widerstand der alten Kirchenformation gescheitert, sondern an seinem Charakter als halbierte, ja selbstwidersprüchliche Modernisierung, einem Widerspruch, wie er etwa schon in Klostermanns Doppelziel von Intensivierung und Expansion zum Ausdruck kommt. Die gemeindetheologische Modernisierung wollte freigeben (»mündiger Christ«) und gleichzeitig wieder in der »Pfarrfamilie« einfangen. Sie wollte Priester und Laien in ein neues gleichstufiges Verhältnis bringen bei undiskutierbarem Leitungsmonopol des priesterlichen »Vorstehers«. Sie wollte eine Freiwilligengemeinschaft sein, die aber auf ein spezifisches Territorium bezogen sein sollte, sie wollte für alle da sein, war es aber doch für immer weniger. Und man verengte die ehemals extrem aufgespannten Partizipationsgrade an Kirche zwischen Minimalpartizipation am unteren kirchenrechtlichen (und doch »heilsgewissen«) Rand und Totalhingabe auf das berühmte »aktive Gemeindemitglied« ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als die Einzelnen die Lizenz zu sanktionsfreier religiöser Praxis bekamen.
Diese Selbstwidersprüchlichkeiten einer halbierten Modernisierung blieben nicht folgenlos. Aus ihrer inneren Widersprüchlichkeit entwickelten sich äußere Paradoxien: Die Gemeinde sollte das Leben in Christus vermitteln und musste doch offenbar selbst ständig »verlebendigt« werden, sie war auch in ihrem eigenen Selbstverständnis kein Selbstzweck, zog aber alle Bemühungen und Initiativen auf sich, sie war plötzlich die »Summe und Pointe aller Pastoral«18, und doch expandierten die nicht-gemeindlichen Handlungssektoren der Kirche, also Diakonie, Kategorialpastoral oder Bildungsarbeit, weit stärker.
Der Kern der Selbstwidersprüchlichkeit des gemeindetheologischen Konzepts gründet in seinem ambivalenten Verhältnis zur Freiheit. Diese Ambivalenz aber rührt aus dem Status der Gemeindetheologie als kriseninduziertes Rettungsprogramm. Ähnlich wie das Papsttum im späten 19. Jahrhundert – und daher auch ähnlich emotional aufgeladen – zog die Gemeindetheologie enorme Rettungsphantasien einer durch die moderne liberale Gesellschaft und ihre ganz anderen Lebensstile unter Druck geratenen Kirche auf sich – wenn auch diesmal bei den eher modernitätsfreundlichen Teilen der Kirche. Doch in einem kommt sie mit der forcierten Papstkirche der Pianischen Epoche überein: Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden.
Die Gemeindetheologie formuliert somit ein spezifisches innerkirchliches sozialtechnologisches Projekt. Sie verspricht Vergemeinschaftung jenseits der Repression einer »unverlassbaren« Schicksalsgemeinschaft und doch diesseits der unheimlichen und ungebändigten Freiheit des Einzelnen. Deshalb thematisiert die Gemeindetheologie auch primär