Himmlisch frei. Renata Schmidtkunz

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Himmlisch frei - Renata Schmidtkunz

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Etwa wenn es um Euthanasie, Flüchtlingshilfe oder das Engagement für Behinderte, Obdachlose und alleinerziehende Frauen geht?

      Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sagte im Mai 1980 auf der Conservative Women’s Conference, der jährlichen Konferenz der Conservative Women’s Organisation:

      We have to get our production and earnings in balance. There’s no easy popularity in what we are proposing, but it is fundamentally sound. Yet I believe people accept there is no real alternative. (Wir müssen unsere Ausgaben und Einnahmen ins Gleichgewicht bringen. Das, was wir vorschlagen, wird unpopulär sein, aber es ist ganz grundsätzlich vernünftig. Ich glaube, dass die Menschen akzeptieren werden, dass es keine wirkliche Alternative gibt).

      Damit war das sogenannte TINA-Syndrom (There Is No Alternative) geboren, und diese seither von vielen Politikerinnen und Politikern gebetsmühlenartig wiederholte »Alternativlosigkeit« sickerte über die Jahre und Jahrzehnte in die Gehirne der Menschen in ganz Europa ein.

      Die aufgrund dieser angeblichen Alternativlosigkeit verwirklichten »Reformen« (Rückbau des Sozialstaates, der Bildungssysteme, Liberalisierung der Wohnungsmärkte, Privatisierung von Gesellschaftseigentum, und so weiter) verursachten und verursachen immer wieder große Protestwellen, was aber nichts an dem seit Beginn der 1990er Jahre vollzogenen Umbau unserer europäischen Gesellschaften änderte.

      Das Diktat der Effizienz

      In dieser Phase tauchte am Horizont des öffentlichen Diskurses auch das Effizienz-Gespenst auf. Evaluierung und Qualitätskontrolle, eigentlich wichtige Werkzeuge eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates, mutierten zu Beherrschungsinstrumenten zugunsten der Ökonomie.

      Ein zum Teil unbarmherziger Kapitalismus veränderte mit seinem Diktat der »Bezifferung der Welt«2 unsere westlichen Gesellschaften bis zur Unkenntlichkeit. Westeuropäer, die sich hier »Humanisten« und »von den Gedanken der Aufklärung geprägt« nannten, verdienten im völlig deregulierten und von einer Goldgräberstimmung erfassten Osten Europas mit Privatisierungen Milliarden. Die Osteuropäer, die dem Versprechen der »blühenden Landschaften« geglaubt hatten, sahen sich nicht nur der westlichen Entwertung ausgesetzt, sondern auch einem brutalen Lebenskampf. Zwangsprostitution und Sklavenwesen waren im Herzen Europas wieder möglich geworden3.

      Kritikerinnen und Kritiker nennen diese neue Art des Effizienzdenkens »Neoliberalismus«. Eines der wichtigsten Merkmale des Neoliberalismus ist ein ausgeprägtes Nutzen- oder Gewinndenken: Was nichts bringt, wird nicht mehr gemacht.

      Die Philosophin Hannah Arendt weist 1972 in ihrem Buch Vita activa oder Vom täglichen Leben unter Bezugnahme auf Karl Marx darauf hin, dass die Entwertung der Werte einer Gesellschaft damit beginnt, dass man alles zu Werten beziehungsweise zu Waren macht.

      Dieses Denken führt dazu, dass etwas, das man nicht in Geld bemessen kann, seine Gültigkeit, mehr noch, seine Existenzberechtigung und Wertschätzung in der Gesellschaft verliert. So zum Beispiel alle menschlichen Eigenschaften, oder, um dieses altmodische Wort zu verwenden, Tugenden, die sich in selbstlosem Tun anderen oder der Gesellschaft gegenüber ausdrücken.

      Doch das, was uns zu menschlichen Menschen macht, lässt sich nicht in Geld bemessen. Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge, jemanden etwas lehren, das Nachdenken, Solidarität und Mitgefühl, Barmherzigkeit und Freude, um nur einige Beispiele zu nennen, sind im Denksystem des Neoliberalismus wertlos. Denn niemand kann sich den Ertrag von Menschlichkeit auf sein Privatkonto verbuchen. Jene, die gerne alles, außer das von ihnen verursachte Elend, privatisieren würden, bestimmen heute den öffentlichen Diskurs.

      Wie kann ein lebendiges Lebewesen an diese uns täglich präsentierte Alternativlosigkeit glauben, begann ich mich zu fragen. Wir sehen jeden Tag an uns selbst, an anderen Menschen und allem, was uns umgibt, dass es immer Alternativen gibt. Man kann sich immer entscheiden, für das eine oder das andere. Leben bedeutet geradezu, Alternativen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Dazu gibt es dann noch so vieles, worüber wir keine Macht haben, und womit wir trotzdem umgehen müssen. Wie können Menschen, die wir wählen und die in unserem Namen verantwortlich handeln sollten, also von Alternativlosigkeit sprechen? In wessen Sold stehen sie, wessen Agenda verfolgen und wem nützen sie? Und was ist ihnen entgegenzustellen?

      Die Folgen des Religionsverlustes

      Diese Frage führte mich zum Thema des Buches, das Sie in Händen halten.

      Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Mein Vater und meine Mutter betrachteten ihren Beruf mehr als Berufung und ordneten daher auch unser Familienleben dieser Aufgabe unter. Eines der Grundprinzipien, die ich in diesem Elternhaus lernte, war, dass wir als Mensehen Verantwortung zu übernehmen und uns für eine bessere Welt einzusetzen haben. Eine bessere Welt war für uns eine Welt der Gerechtigkeit, der Liebe, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung, um es plakativ zu formulieren.

      Das Fundament dieser Überzeugungen meiner Eltern bildete der Glauben an einen Gott der Liebe, der die Welt geschaffen und den Menschen geschöpft hat. Leben hieß und heißt in der Welt meiner Eltern, in der Welt des Protestantismus, in der ich aufgewachsen bin, aktiv an einer besseren Welt mitzuwirken und sich gegebenenfalls zu diesem Zwecke auch politisch zu engagieren.

      Mit dieser Mitgift begann ich 1983 ein Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Wien. Ein Auslandsjahr am Centre universitaire protestant in Montpellier trug nicht nur zur Verbesserung meiner Französischkenntnisse bei, sondern brachte mir auch Geschichte und Gegenwart des französischen Protestantismus näher. Er war gekennzeichnet von blutigen Verfolgungen und dem Widerstand gegen jede Art von ungerecht handelnder Obrigkeit.

      In diesem Studium der Theologie lernte ich, strukturell zu denken und eine der zentralen Fragen kritischen Denkens zu stellen: »Cui bono?« Auf Deutsch: »Wem zum Vorteil?« Das verdanke ich zuallererst meiner Wiener Professorin Dr.in Susanne Heine, die mich förmlich anstachelte, kritische Fragen zu stellen und selbst zu denken.

      Außerdem lernte ich, dass der Mensch fähig ist, über sich selbst hinaus zu denken und zu hoffen, dass er Ideen und Ideologien erdenken kann, dass manche »Wahrheiten« den Moden der Zeit geschuldet sind und sich die Fragen der Menschheit trotz aller Erkenntnisse und Erfindungen wenig ändern: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum gibt es Leiden? Was ist gut? Was ist böse? Warum müssen wir sterben?

      Dass ich trotz meiner elterlichen Vorbilder nicht Pfarrerin werden wollte, war mir schnell klar. Zu lange hatte ich im Glashaus gesessen, denn Pfarrersfamilien wurden vor vierzig Jahren von den Gemeinden noch als öffentliches Gut betrachtet und genau beobachtet.

      Durch Zufall, aber dann dafür mit umso größerer Leidenschaft, wurde ich Religionsjournalistin. Zwar würde ich mich selbst heute nicht mehr als religiös im traditionellen Sinn bezeichnen und schon gar nicht bin ich missionarisch motiviert, die Welt der Religionen ist aber wegen ihrer Vielfalt und philosophisch-theologischen Buntheit nach wie vor mein Steckenpferd, vielleicht sogar meine Leidenschaft. Denn ohne ein Wissen über Geschichte und Gegenwart der Religionen ist unsere Welt kaum zu verstehen.

      Die Ideen- und Geistesgeschichte der vergangenen Jahrhunderte hat dazu geführt, dass die europäischen Gesellschaften sich mehr und mehr von den Kirchen, die mindestens bis in die 1980er Jahre auch über viel gesellschaftliche Macht verfügt haben, distanzierten. Ethische und moralische Grundsätze werden nicht mehr nur religiös, sondern überwiegend humanistisch begründet.

      Den Religionsverlust, der sich auch in schwindenden Mitgliedszahlen, vor allem, aber nicht nur, in den protestantischen Ländern Europas zeigt, empfinden aber viele Menschen auch als persönlichen

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