Himmlisch frei. Renata Schmidtkunz

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Himmlisch frei - Renata Schmidtkunz

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      Angefeuert durch die »There is no alternative«-Rufe der Politik macht sich in unserem transzendenzlosen Alltag Orientierungslosigkeit und Verzagtheit breit.

      Der gebeugte Konsument

      2010 drehte ich in Budapest einen Film für den europäischen Kultursender 3sat. Zwischen Humor und Verzweiflung. Ungarns Weg durch die Krise lautete der Titel. Ich hatte mir vorgenommen, nach der Wiederwahl Viktor Orbáns und dem sofort einsetzenden Umbau der ungarischen Gesellschaft, Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler danach zu fragen, wie sie mit den Veränderungen umgehen und wie jene sich auf Kunst, Politik und Gesellschaft auswirken.

      So kam ich unter anderem in die Kunsthalle am Platz der Helden im Zentrum Budapests. Man zeigte die Ausstellung Over the Counter (Über den Ladentisch)4. Künstlerinnen und Künstler aus vielen Ländern des ehemaligen sogenannten Ostblocks stellten aus. Sie thematisierten die völlige Ökonomisierung der osteuropäischen Gesellschaften. Und auch 21 Jahre nach der sogenannten Wende schienen sie noch unter Schock zu stehen, war es ihnen offensichtlich noch nicht gelungen, sich im neuen System zu beheimaten.

      Ein Kunstwerk blieb mir besonders in Erinnerung: Auf einer weißen Wand waren mit einer einfachen schwarzen Linie zwei menschliche Figuren gemalt. Eine stand aufrecht und hielt, offensichtlich demonstrierend, ein Schild hoch. Darunter war geschrieben: »Citoyen« (»Bürger«). Aber das Wort war durchgestrichen. Daneben stand eine zweite Figur, gebeugt, mit hängenden Armen, links und rechts mit schweren Einkaufstüten behängt. Darunter stand das Wort: »Consumer« (»Konsument«).

      Mit wenigen Strichen hatte es diese Grafik geschafft, zu zeigen, wie die ökonomischen Veränderungen auch die politischen Strukturen und die Rolle des Individuums in ihnen verändert haben. Aus dem Bürger, der Bürgerin wurde der Konsument, die Konsumentin. Zu konsumieren ist seine und ihre Lebensaufgabe und die einzig zulässige Rechtfertigung seines, ihres Daseins.

      »Wir haben eine Gesellschaft, in der es kein Vertrauen gibt und keine Idee vom Gemeinwohl, keinen Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit. Die Tradition ist zerstückelt, die Zukunft existiert nicht. Also, was wollen wir?«, sagte mir der rumänisch-ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás, Mitinitiator der »Runden Tische« während und nach der Wende in Ungarn, damals im Interview.

      Mit den Füßen auf der Erde und dem Kopf im Himmel

      Ja, was wollen wir?

      Der Himmel ist leergeräumt, die Gottheiten haben ausgedient. Und wenn nicht, sind sie Konsumgüter im Supermarkt möglicher Weltanschauungen und Religionen. In seinem Buch Nach Gott schreibt Peter Sloterdijk, dass in der klassischen Antike die Götter unsterblich waren und die Menschen als irdischer Widerpart der Götter den Namen »die Sterblichen« trugen. Aber längst ist uns klar geworden, dass der am Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizierte »Tod Gottes« wirklich stattgefunden hat. Und dieser Tod hat nicht zuletzt mit unseren ökonomischen und technologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen und Rahmenbedingungen zu tun. Was für das einzelne Individuum die Sterblichkeit ist, ist für Zivilisationen und deren Gottheiten ihre Geschichtlichkeit. Beide haben immer auch ein Ablaufdatum.

      Die Tatsache, dass die Moderne eine über uns thronende, uns belohnende und bestrafende Allmacht abschaffte, macht im Umkehrschluss den Menschen zum allmächtigen Wesen. Der Mensch als allmächtiger Schöpfer und Zerstörer tut der Menschheit aber nicht gut. Wir sehen es jeden Tag. Ein Blick in die Medien genügt.

      Transzendenz zu denken, sich darin zu üben, davon auszugehen, dass es einen Bereich gibt, der jenseits unseres Verstehens und unseres Einflusses ist, bedeutet neben vielem anderen auch, Distanz zum Weltgeschehen zu bekommen. Es ist eine Distanz, die befreien kann von jenen Trieben, die unsere Welt und die Menschheit im Moment zu zerstören drohen. Es ist eine Distanz, die befreien kann von dem Wunsch, alles alleine zu besitzen, dem Wunsch, die Welt und was auf ihr wächst und existiert, nicht teilen zu wollen.

      Wenn gläubige Menschen in allen Religionen der Welt zum Beispiel sagen, wir seien nur zu Gast auf diesem Planeten, er sei uns nur zur pfleglichen Verwendung anvertraut worden, wenn also ein transzendenter Besitzer zwischen uns und unsere Erde gestellt wird, werden wir mit dieser Erde vielleicht besser umgehen, als wir es im Moment tun.

      Wenn das Fremdenrecht ein Gebot einer göttlichen Allmächtigkeit ist, werden wir Menschen, die aus welchen Gründen auch immer und mit friedlichen Absichten oder gar aus Not zu uns kommen, wahrscheinlich freundlicher aufnehmen, als wenn wir davon ausgehen, dass das Land, in das wir durch Zufall hineingeboren wurden, das durch Zufall keinen Krieg und keine Hungersnot zu leiden hat, uns gehört. Und zwar nur uns.

      Woher werden wir jetzt und in Zukunft die Ideen, die Utopien, die Kraft und den Mut nehmen, uns den sich weltweit zuspitzenden Problemen von Klimawandel, Rassismus und letztlich der Zerstörung des Planeten entgegenzustellen? Und wie kann es uns gelingen, trotz der technologischen Entwicklungen, trotz Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, das Wohl der real existierenden Menschen nicht aus den Augen zu verlieren? Wie begründen wir unser individuelles und kollektives Tun, wenn es keinen Gott im Himmel gibt, dessen Gebote uns im humanen Zaum halten?

      Zu denken, dass es jenseits unserer materiellen Wirklichkeit einen offenen Raum gibt, einen Raum der Freiheit, erweitert unsere Wahrnehmung von uns selbst, der Gemeinschaft und der Welt, in der wir leben. Im schönsten Fall wird diese Vorstellung uns dabei helfen, entsprechend unserer Überzeugungen frei und selbstbestimmt zu leben. Das Wissen um die Unendlichkeit von Zeit und Raum, die in vielen Religionen der Welt »Gott« oder »das Sein« genannt wird, kann das Denken beflügeln und zu innerer Freiheit und Selbstbestimmtheit führen.

      Vielleicht ist es auch so: Wenn wir nicht mit den Füßen auf der Erde und dem Kopf im Himmel durch das Leben gehen, werden wir grau und mutlos, und unsere Seelen werden verkümmern.

      In diesem Sinne verwende ich im vorliegenden Buch das Wort Transzendenz. Zunächst kommt es von dem lateinischen Wort transcendere und meint einfach »etwas überschreiten«. Die Bewegung des menschlichen Geistes im Denken beschreibt man auch als einen Prozess des Transzendierens. Im Denken an oder über etwas, das die vorfindliche Wirklichkeit übersteigt (zum Beispiel in einer Sklavengesellschaft an die Freiheit aller Menschen zu glauben und dafür zu kämpfen), ist also ein Prozess des Überschreitens, auch des Weiterschreitens. Denn was gedacht ist, kann so auch Wirklichkeit werden.

      Die Tatsache, dass ich als Frau heute ein selbstbestimmtes, freies Leben führen kann, verdanke ich Generationen von Frauen und auch Männern, die dafür gekämpft haben. Sie glaubten wider den Zeitgeist an die Gleichwertigkeit der Geschlechter. Außerdem lehnten sie eine Rechtsordnung ab, die Unrecht zu Recht machte.

      In Geschichte und Gegenwart gab und gibt es Menschen, die von der Idee der denkerischen Freiheit und dem daraus entstehenden Bedürfnis nach einem autonomen Leben so begeistert und überzeugt waren, dass sie auch bereit waren, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Von solchen Menschen wird in diesem Buch die Rede sein. Auch von Begegnungen mit Menschen, die mich beeindruckten und inspirierten und manchmal auch ein Grund waren, Dinge in meinem Leben zu ändern.

      Aber es wird auch um die Frage gehen, was es heißt, frei und selbstbestimmt leben zu wollen und wie wir das in Gemeinschaft mit anderen tun können. Wozu brauchen Menschen heute noch Religion, oder geht es uns ohne Religion vielleicht doch besser? Was treibt uns an, Gutes zu tun, und was ist gut?

      Was Sie erwartet, ist keine theologische oder religionsphilosophische Abhandlung, obwohl ich manchmal in diese Gefilde reisen werde, um Zusammenhänge zu erklären. Ich schreibe dieses Buch als Beobachterin, als Journalistin mit Steckenpferd. Ich schreibe es auch, weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren in Interviews

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