Himmlisch frei. Renata Schmidtkunz

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Himmlisch frei - Renata Schmidtkunz

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auch als »Strom des Lebens« bezeichnet, bildete die Grenze zwischen dem Diesseits und dem »Duat«, dem Reich der Toten. Der ägyptische Totengott Anubis geleitete die Verstorbenen bei ihrer Jenseitsfahrt über diesen Fluss.

      In der griechischen Mythologie trennt der Todesfluss Styx, das »Wasser des Grauens«, die Ober- von der Unterwelt. Er ist ein beliebtes Motiv in der Literatur, von Dante Alighieri bis Else Lasker-Schüller und Thomas Mann10.

      Ohne Grenzen wäre alles ein Tohuwabohu, wie es in der Schöpfungsgeschichte der hebräischen Bibel heißt, ein großes Durcheinander, ein Chaos11. Erst Grenzen ermöglichen es uns, unsere Identität zu formen, uns und das andere voneinander zu unterscheiden. Und nur, wenn wir uns vom anderen unterscheiden können, erlangen wir auch Autonomie.

      Wir kämen ohne Grenzen zu keiner Wahrnehmung und zu keinem Urteil und damit zu keiner Ethik des Zusammenlebens. Ein einfaches Bild hilft, das zu verstehen: Finden Sie die Karotte im Gemüsebrei. Beschreiben Sie dieses Gemüse angesichts des Breis. Oder ist gar keine darin? Schwer zu sagen.

      Hannah Arendt, eine der bedeutendsten unter den Denkerinnen und Denkern des 20. Jahrhunderts, schrieb über die Funktion der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, 1946 einen Aufsatz mit dem Titel Was ist Existenzphilosophie?. Sie kam zu dem Schluss, dass der Mensch immer versuchen wird, über die Wirklichkeit hinaus die Transzendenz zu denken, und immer wieder daran scheitern wird.

      Dennoch erfülle das Nachdenken über diese Grenzen der Wirklichkeit, das »denkende Transzendieren«, wie Arendt es nennt, einen Sinn. Denn damit stecke der Mensch die Freiheit seiner Existenz ab, und zwar immer in der Kommunikation mit anderen Menschen. Denn Grenzen werden uns von der Gemeinschaft und den Menschen, mit denen wir leben, gesteckt.

      Platons Grenze zwischen Himmel und Erde

      Die Idee der zwei durch eine Grenze getrennten Bereiche, des irdisch-materiellen und des überirdisch-spirituellen Bereiches, formulierte der griechische Philosoph Platon bereits im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seiner Schrift Politeia (Der Staat).

      Politeia behandelt die Frage, was Gerechtigkeit ist und wie sie in einem idealen Staat verwirklicht werden kann. Man kann die Schrift also als ein ausgearbeitetes Konzept einer politischen Philosophie begreifen.

      Im siebenten Buch von Politeia lässt Platon seinen Lehrer Sokrates über den Sinn und die Notwendigkeit von Bildung reden. Nur durch Bildung können die unfreien Menschen diese Grenze überschreiten und von der Dunkelheit des Vergänglichen zur Helle des vollkommenen Seienden, des Unvergänglichen, kommen und so befreit werden. Der Sinn der menschlichen Existenz ist laut Platon ebendiese Befreiung. Sie befähigt den Menschen zur »Schau der Idee des Guten«.

      Platon war überzeugt, dass jeder Mensch eine unsterbliche Seele habe und diese aus dem Bereich der Ideen, des überirdischen Seins, stamme. Nach dem Tod kehrt die Seele dorthin zurück. Jeder Mensch ist nach Platon ein Teil des vollkommenen Seins. Diese Vorstellung der unsterblichen Seele zieht sich von Platon ausgehend durch die Geschichte der christlichen, jüdischen und muslimischen Mystik. Bis in unsere Tage.

      Transzendenz ist der Anfang des Denkens und der religiösen Rituale und kultischen Handlungen

      Interessant an der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Irdischem und Himmlischem erschien mir, dass sie nur einseitig durchlässig ist. Das Leben in der Immanenz, im Diesseits, verstehen die meisten Mythen und Religionen als abhängig von der Transzendenz. Umgekehrt gilt das nicht. Theologisch gesprochen hieße das – der Mensch braucht Gott, aber Gott braucht den Menschen nicht – was nur eine Behauptung wäre. Denn was wissen wir schon von der Sphäre jenseits der uns bekannten Welt?

      Im Grunde, wurde mir bewusst, geht es bei den einander entgegengesetzten Begriffen Immanenz und Transzendenz um verschiedene Formen des Verstehens. Das Unverfügbare mag in den vergangenen Jahrhunderten geschrumpft sein. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften haben das Wissen und Können der Menschen verändert.

      Krankheiten werden heute durch eine hoch entwickelte Medizin geheilt. Mithilfe der Chemie können wir landwirtschaftliche Erträge unabhängig von Witterungen steigern. Und seit Charles Darwin wissen wir mehr über die Entstehung von Mensch und Tier. Vieles von dem, was den Menschen früher ein Rätsel war und das sie deshalb dem Unverfügbaren, dem Transzendenten zugerechnet haben, lässt sich heute erklären. Doch nach wie vor sind die Wissenschaften mit Grenzen konfrontiert, nach wie vor reichen unsere Werkzeuge nicht aus, um das Universum als Ganzes zu verstehen.

      Dieses Nicht-verstehen-Können-aber-verstehen-Wollen war einst der Ursprung für die Entstehung unseres Denkens, gleichzeitig aber auch der Grund, warum Menschen begannen, Rituale zu entwickeln. Mit Gebeten, Totemverehrung, Regentänzen und anderen Beschwörungen wollten sie sich das Unverfügbare verfügbar machen. Sie wollten damit Einfluss darauf nehmen, um Schaden von sich abzuwenden.

      Heute geht die Religionssoziologie davon aus, dass Religion »unbewusst« entstand und dass sie auch Ergebnis materieller Notwendigkeiten war. Gottheiten entstanden somit als Ansprechpartner für existenzielle Anliegen, und mit ihnen entstanden vor etwa 15.000 Jahren auch Kulte und Rituale, die diese Ansprechpartner oder vermuteten allmächtigen Gottheiten beeinflussen sollten.

      Dass jeder Mensch auch heute diese menschheitsgeschichtlich nachgewiesene Entwicklung durchmacht, verdeutlicht eine kleine Geschichte aus dem Jahr 1995. Meine Tochter war damals drei Jahre alt. Sie war ein zufriedenes Kind, das stundenlang vor sich hin spielen konnte. An einem regnerischen Tag beobachtete ich, wie sie in ihrem Zimmerchen ein großes Blatt Papier mit hellblauer Wasserfarbe anmalte. Dann ging sie auf den Balkon und wedelte damit, die angemalte, hellblaue Seite nach oben haltend, den Himmel an.

      »Was machst du da?«, fragte ich sie.

      »Ich zeige dem Himmel, welche Farbe er haben soll«, antwortete sie.

      Das war pures magisches Denken, ein Versuch, die Grenze zwischen Himmel und Erde von der Erde aus zu durchdringen, den Himmel zu beeinflussen. Ich war erstaunt, dass mein Kind dachte, es hätte durch ein angemaltes Blatt Papier die Macht, auf das Wetter Einfluss zu nehmen. Besser hätte mir niemand den Zusammenhang zwischen Kultus und Kunst und die Entstehung von Religion aus einem vitalen Interesse heraus erklären können.

      Gehört Transzendenz zum Wesen des Menschen?

      Transzendenz ist also das, worüber wir nicht verfügen können, was wir zwar erfassen, aber nicht kontrollieren oder beeinflussen können. Gott oder das Heilige könnte man als Transzendenz beschreiben. Selbstreflexion und das Denken darüber, wie wir leben wollen oder wie wir die Welt zu einer gerechteren und besseren machen können, gehören auch dazu. Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft bilden den notwendigen Rahmen dafür.

      Nachdem ich das für mich geklärt hatte, stellte sich mir eine weitere Frage: Kann es sein, dass Menschen die Fähigkeit zur Transzendenz, die sie überhaupt erst zu Menschen macht und die die Quelle jeder Entwicklung ist, in dem um sich greifenden konsumistischen Materialismus verlieren? Kann es sein, dass das Wünschen und Hoffen auf ein besseres und gerechtes Leben eines Tages aufhört? Kann es in der Zukunft eine Zeit geben, in der keine Utopien mehr gedacht werden? Gehört es nicht zum Wesen des Menschen, über sich selbst hinauszudenken und an eine »höhere Macht« zu glauben? Und wenn es so ist: Warum ist es so, und wozu führt das?

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