Himmlisch frei. Renata Schmidtkunz

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Himmlisch frei - Renata Schmidtkunz

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ist Transzendenz das Verlassen der Realität. Für einen Moment ist dann die Glaswand, die zwischen mir und der Unendlichkeit liegt, verschwunden. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich die Realität verlassen möchte.

      Der Ursprung der Kunst ist der Kultus, sie bezog sich ursprünglich auf das Leben und den Tod und das Leben nach dem Tod. Der Moment des künstlerischen Schaffens ist nicht nur für Heuermann ein Akt der Selbsttranszendierung. Besonders deutlich wird das in der bis heute gepflegten Tradition der Ikonen-Malerei der griechisch-orthodoxen Mönche. Sie verbindet den schöpferischen Akt mit Meditation. Die Herstellung und auch die Betrachtung des Bildes aktivieren die sinnlichen Kräfte. Der deutsch-schweizerische Schriftsteller Alfons Rosenberg (1902-1985), der vorwiegend über Mystik, Symbolforschung und Astrologie publizierte, schrieb in seinem Buch Christliche Bildmeditation:

      Das Meditationsbild (…) vermag durch die Aktivierung der Einbildungskraft auf jenes geistige Zentrum im Menschen zu wirken, das einer tieferen Schicht der menschlichen Innerlichkeit angehört als Gefühl und Reflexion. (…) Das Auge wird zum Organ des Herzens, zum Herzensauge, vorurteilslos und hingegeben geöffnet.

      Die Künstlerin Heuermann ist nicht religiös. Um künstlerisch schaffen zu können, will sie dennoch die Realität verlassen und sich in den Bereich des Unverfügbaren begeben. Sie schrieb mir weiter:

      Kunstwerke entstehen aus der menschlichen Fähigkeit, zu denken, nachzudenken. Aus einer körperlichen Anspannung, aus einer Gereiztheit, aus einer Anspannung der Sinne, des Denkens. In ihnen werden Dinge sichtbar, die nicht da sind und doch da sind. Sie reichen von der Transzendenz in die Immanenz herüber, sie reichen in die Welt zurück.

      Heuermann formuliert implizit die Frage, was sich in diesem Bereich außerhalb der Realität befinden kann. Ist das, was wir dort erleben und erfahren, nur Gutes und Schönes oder auch Dunkles und Unangenehmes? Hat auch das Unbewusste seinen Platz in der Transzendenz?

      »Transzendenz ist das Durchscheinen des schöpferischen Ganzen durch die individuelle Erfahrung«

      Der in Berlin lebende Biologe, Biosemiotiker, Philosoph und Publizist Andreas Weber5 schrieb mir:

      Unter Transzendenz verstehe ich das Durchscheinen des schöpferischen Ganzen durch die individuelle Erfahrung und den individuellen Ausdruck: das »endliche Unendliche«, wie (der deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph, Anm.) Schelling es nennt. Oder in meinen eigenen Worten: »Den jüngsten Tau auf den ältesten Dingen, das Innerliche als Außenseite.«

      Weber steht in der Tradition des Philosophen Jakob Johann von Uexküll6 und der chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela7 und gilt als Vertreter der neuen Naturphilosophie. Seine Bücher sind ein Plädoyer für eine Überwindung der mechanistischen Interpretation von Lebensphänomenen. Leben ist für Weber kontinuierliche Selbsterschaffung, Natur und Mensch vernetzen sich in diesem Prozess, Lebendigkeit ist das Wesen des Seins. Das mechanistische Weltbild hingegen ist für Uexküll und in der Folge auch für Weber zur Beschreibung dessen, was Sein und Leben ausmacht, unbrauchbar. Wir treten demnach in der Transzendenz einen Schritt zurück, schauen auf die Welt und alles, was uns umgibt, mit anderen Augen und erkennen so, dass alles zusammenhängt, ein Ganzes bildet.

      Auf wissenschaftlicher Ebene hat das der große deutsche Gelehrte Alexander von Humboldt getan: Er bereiste zu Beginn des 19. Jahrhunderts in mehrjährigen Forschungsreisen Lateinamerika, die USA und Zentralasien. Seine Disziplinen, die ihm halfen, die Welt zu vermessen8, waren Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Vulkanologie, Botanik, Vegetationsgeographie, Zoologie, Klimatologie, Ozeanographie und Astronomie, außerdem die Wirtschaftsgeographie, die Ethnologie und die Demographie.

      Und was war das Ergebnis seines komplexen, vernetzten Denkens und Forschens? Die Erkenntnis, dass den Globus ein Netz umhüllt, in dem alle Bestandteile miteinander korrespondieren9. Eine Gesamtschau dieser wissenschaftlichen Welterforschung erschien zwischen 1845 und 1862 in fünf Bänden unter dem Titel Kosmos und machte Humboldt weltberühmt. Inspiriert von Goethe schreibt er darin:

      Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten (…) der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Sinnenwelt hinaus, und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.

      Alexander von Humboldt war zu seinen Lebzeiten übrigens ein wissenschaftlicher Superstar. Als er 1859 starb, zog ein eineinhalb Kilometer langer Trauerzug durch die Straßen von Berlin und in allen Metropolen der Welt trauerten Menschen mit.

      »Transzendenz ist das, worüber wir nicht verfügen können«

      Die ungarische Philosophin Ágnes Heller, deren jüngstes Buch den Titel Von der Utopie zur Dystopie: Was können wir uns wünschen? trägt, zitierte bei ihrer Erklärung von Transzendenz den deutschen Philosophen Immanuel Kant.

      Wir erfahren das Empirische und denken das Transzendentale, das wir nicht erfahren können.

      Wie, musste ich mich für dieses Buch fragen, lässt sich über etwas denken, schreiben oder sprechen, das unserer Erfahrungswelt nicht angehört?

      Die Rolle der Religionen bei der Beantwortung dieser Frage ist schwierig, so viel war mir klar. Viele Menschen verstehen deren Geschichte als eine von Gewalt und Unterdrückung dominierte, und ihre Vorbehalte sind berechtigt. Auf dem Weg zur Freiheit und Humanität, zu Erkenntnissen und neuen Wegen des Denkens und Handelns, ist auch geschichtlicher Ballast aufzuarbeiten.

      Doch in den unterschiedlichen Religionen verbirgt sich, ebenso wie in den Philosophien und in den Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen Forschung, ein Wissen, das wir sowohl als Individuen als auch als Menschheit dringend brauchen. Dieses Wissen ermöglicht es uns, Grenzen zu überschreiten und das Fremde und Neue anzuerkennen.

      Das Andere der Vernunft

      Transzendenz ist ein Freiheitsraum, so viel war klar. Weil in unserer transzendenten Wahrnehmung das »Andere der Vernunft«, wie es der Lehrer, Philosoph und Autor Kurt Wuchterl nennt, aufscheint. Weil in unserer denkerischen Selbstübersteigung Nähe zu diesem »Anderen« möglich ist.

      Gläubige Menschen, egal ob sie Anhänger einer monotheistischen Weltreligion oder anderer Religionen sind, würden sagen: Gott (als Chiffre für das Transzendente, das Unverfügbare) ist nichts unmöglich. Oder anders: Bei Gott ist alles möglich. In der Unendlichkeit ist alles möglich. Alles ist überall möglich. Das ist die Lebendigkeit des Lebens.

      Transzendenz ist das Überschreiten einer Grenze

      Wenn transcendere im lateinischen Wortsinn »etwas überschreiten« bedeutet, auch das war mir klar, musste es bei Transzendenz immer auch um eine Grenze gehen. Sie verläuft zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen.

      Grenzen hatten schon immer eine tiefe Bedeutung für uns Menschen. So spielen in fast allen Mythen alter Religionen Flüsse eine Rolle. Sie trennten als natürliche Grenzen Landschaften und Stammesgebiete voneinander, waren schon immer eine tägliche Erfahrung von Menschen und prägten deshalb

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