Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman. Andrea Reichart
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Nobbi schrie. In seinen Hals hatte sich ein knurrender Dackel verbissen. Eine Katze hob fauchend ihre Tatze, ein Teller mit Waffeln schwankte, er selbst brüllte unflätig den Killerdackel an, die Frau rief: „Der tut nix!“
So schnell, wie es angefangen hatte, war es vorbei. Fast. Der Dackel lockerte seinen Biss, fiel zurück auf seine vier Pfoten und begann herumzuschnüffeln. Nobbi schüttelte sich und schaute wedelnd der Katze nach, die flink in ein Gebüsch abtauchte. Die Frau nahm den Teller mit Waffeln in die andere Hand und lächelte. Nur er brüllte und fluchte und schimpfte und drohte.
Das tat er ungefähr eine endlose Minute lang, während niemand sonst einen Laut von sich gab. Dann zog er seinen Hund mit einem Ruck hinter sich her und stapfte den Berg hoch.
Norbert kochte. So eine Unverschämtheit! Wozu gab es denn Leinenzwang in Deutschland? Und was für Menschen nahmen einen Hund, eine Katze und einen Teller voller Waffeln gleichzeitig mit nach draußen? Waffeln! Sollte sie lieber mal eine Leine anpacken, verdammt nochmal!
Leider wusste er nicht mehr genau, mit welchen Beschimpfungen er sich bei der unbekannten Nachbarin eingeführt hatte, und er konnte nur hoffen, dass seine an und für sich gute Kinderstube nicht vollkommen versagt hatte. Einen dicken, kleinen Kampfdackel zu beschimpfen, das war ok, zumal das Biest angefangen hatte. Aber die arme Frau?
Norbert hatte ein schlechtes Gewissen. Bei so wenig direkten Nachbarn war ein freundlicher Umgangston eigentlich lebenswichtig, wollte man nicht für alle Zeiten in der überschaubaren Dorfgemeinschaft als Idiot abgestempelt werden.
Bettina hätte die Frau sicher gekannt, vielleicht waren sie sogar befreundet gewesen? Seine Frau hatte nie lange gebraucht, um Leute kennenzulernen, und ihre sanfte, humorvolle Art hatte Türen geöffnet, die anderen lange verschlossen blieben.
Norbert überlegte, dass er im Grunde nicht viel darüber wusste, wie Bettina ihre Zeit in diesem Dorf verbracht hatte, während er tagsüber seine Termine in Düsseldorf und der Welt wahrnahm. Vermutlich hatte sie mit ihm darüber gesprochen, aber er hatte sich nichts davon gemerkt. Oder alles vergessen und verdrängt, als es nur noch um ihren Krebs gegangen war und um die Angst, sie zu verlieren.
Es war nicht ganz auszuschließen, dass die Frau, die er so beschimpft hatte, sehr genau wusste, wer er war, auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, wer sie war. Er nahm sich vor, es bei der nächsten Begegnung wieder gut zu machen. Vielleicht traf er sie ja auf dem Rückweg?
Leider wusste er nur absolut nicht mehr, wo dieser war. Na prima. Er war vermutlich der einzige Mensch, der sich in diesem Dorf verlaufen konnte.
Wo war er bloß? Sie waren nach der Begegnung eine Weile ziemlich steil bergauf gelaufen, dann war plötzlich alles flach. Irritiert blickte er sich um. Jeder Horizont auf diesem Hochplateau sah für ihn gleich aus: Bergimitate und Wälder. War er eben an einem Bauernhof vorbeigekommen? Oh, Moment! Das da drüben war doch der Friedhof, auf dem Bettina lag!
Es dauerte eine Weile, bis er rekonstruieren konnte, welchen Weg sein Hund genommen hatte. Gar nicht dumm, der Kerl. Irgendwie hatte er sich von ihm kreuz und quer durch die weitläufigen Felder ziehen lassen, versunken in seine Wut über die unerfreuliche Begegnung. Beeindruckend, wie der Hund ihn bei diesem allerersten Spaziergang geführt hatte. Norbert hielt sich zugute, dass er aus der Stadt kam und nur einen sehr unterentwickelten Orientierungssinn hatte. Das einzige, was er an seinem ländlichen Wohnort kannte, war jenes zwangsläufige Teilstück Bundesstraße und die kleine Seitenstraße, die in seine Hofeinfahrt führte. Und seit gestern Abend wusste er, dass sein Garten glitschige Abhänge hatte, die im Grenzgestrüpp der Nachbargrundstücke endeten.
Das alles hier – er sah sich um und hielt unwillkürlich die Luft an – diese wunderschönen, mit Raureif bedeckten Felder, die in der frühen Sonne glitzerten, hatte er zwei Jahre lang verdrängt. So lange war es sicher her, dass er bei Tageslicht hier oben gewesen war. War er nach der Beerdigung, die er unter Missachtung aller Konventionen weder bekannt gemacht, noch zu der er irgendjemanden eingeladen hatte, überhaupt schon einmal zu Fuß hierhergekommen? Er konnte sich nicht erinnern. Nun, das würde sich ja jetzt ändern, dachte er seufzend.
In Gedanken bereitete er sich auf die letzten Meter seines Rückweges vor. Die Meter, die ihn nun wieder bergab und am Haus des Dackels vorbeiführen würden.
Er machte sich innerlich bereit, die bösartige Bestie mit dem Fuß zu zerquetschen, wenn er seinem Hund noch einmal derart aggressiv über den Weg laufen würde, und begann beruhigend auf Nobbi einzureden.
Der war jedoch vollkommen ausgelastet damit, alle Gerüche aufzunehmen, die er konnte, und ignorierte den nett gemeinten Monolog. Im Gegenteil, als sie die Stelle passierten, an der er angegriffen worden war, begann er zu wedeln. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ein Masochist!
Und wie auf Kommando schoss der geliebte Peiniger durch das offene Gartentor schnurstracks über die kleine Straße und zurück an die bereitwillig dargebotene Kehle. Nein!
Mit dem Unterschied, dass dieses Mal von der Katze jede Spur fehlte und die Nachbarin keine Waffeln, sondern nach einem kurzen, wütenden Schrei nur einen zappelnden Dackel trug, glichen sich beide Szenen verblüffend. Zumindest was Norberts verbale Ausfälle betraf.
Und wieder konnte er sich ‚danach‘ nicht erinnern, was genau er von sich gegeben hatte, als er nur wenige Augenblicke später alleine an der kleinen Kreuzung stand.
War das fortan sein Schicksal? Aggressionsdemenz im Morgengrauen?
„Verfluchte Scheiße!“, versuchte er sich abzureagieren und zog Nobbi entschlossen bergab in Richtung Haus. Wie sollte er so ein Theater am frühen Morgen in Zukunft bloß aushalten?
Er konnte sich nach dem ersten Hundespaziergang seines Lebens beim besten Willen nicht erklären, wovon die Leute immer schwärmten, wenn sie mit verklärtem Blick vom Glück des Gassi-Gehens faselten. Er war erst seit einer Stunde wach, es war noch nicht einmal acht Uhr, ihm war kalt, er hatte kaum geschlafen, sein Hund war zweimal angegriffen worden, er hatte sich mit der einzigen Nachbarin überworfen und sein Kaffee war ganz sicher inzwischen ungenießbar. Und das alles vor der ersten Zigarette. Da musste es eine andere Lösung geben.
Kapitel 13
Eine Stunde später hatte er sie gefunden. Norbert zog ein Blatt Papier aus dem Drucker. Er würde sein Grundstück einzäunen lassen. Sofort. Und das würde dann Nobbis Revier werden. Groß genug war es mit seinen 15.000 Quadratmetern schließlich. Es ging bergauf und bergab, die Grenzen waren von Strauchwerk überwuchert, und ganz sicher war es ein Paradies für einen Hund. Kurz entschlossen hatte Norbert via Internet Firmen zusammengestellt, die Zäune bauten, und er hatte vor, einige davon für heute Mittag einzuladen, sich um den vermutlich lukrativsten Job des Jahres bei ihm zu bemühen.
Claudia hatte zwar geschrieben, der Hund spränge nicht über Zäune, aber er wollte verhindern, dass mordlüsterne Dackel irgendeinen Weg unter dem Zaun hindurch finden konnten. Er sollte also nicht nur eine sichere Höhe haben, sondern auch ein wenig ins Erdreich hineinreichen. Und er sollte stabil genug sein für die Ewigkeit. Wertsteigerung. Für die Einfahrt schwebte ihm ein Tor mit Fernbedienung vor.
Als er die Liste überflog, musste er schmunzeln. Er hatte alle Firmen ausgedruckt, die in einem Umkreis von zwanzig Kilometern angesiedelt waren. Und ganz offensichtlich würde es nicht schwer werden, sich einen kleinen persönlichen Gag zu erlauben. Gut gelaunt griff er zum Telefon. Als er es nach einer halben Stunde wieder in die Ladestation stellte, rieb er sich vergnügt die Hände.