Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman. Andrea Reichart
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Ein Geräusch ließ ihn aufschauen. Ein Mann, der sich gerade mit einem Hustenanfall quälte, studierte einen Impfausweis und holte eine Spritze aus einem Koffer, der ihn als Tierarzt zu erkennen gab. Er zog eine Lösung auf, warf noch einen Blick in den Impfausweis und steckte ihn in die Brusttasche seines Kittels. Dabei fiel etwas zu Boden. Ohne sich darum zu kümmern, schloss der Tierarzt einen Zwinger auf und ging hinein.
Norbert näherte sich leise.
Dort in einer Ecke kauerte ein Hund und zitterte wie Espenlaub. Mit beruhigenden Worten ging der Veterinär auf das verängstigte Tier zu, das die Lefzen zurückzog und die Zähne entblößte.
‚Ach du meine Güte!‘, erschrak Norbert. Er hatte schon immer zu dem seltenen Männer-Typ gehört, der bei spannenden Stellen im Film wie zufällig in der Fernsehzeitung blättern musste. Nicht besonders cool, aber ihm völlig egal. Da er nicht Zeuge werden wollte, wie die Kampfbestie dem Mann an die Kehle sprang, beschäftigte er sich mit dem Papier, das der Fremde verloren hatte. Er bückte sich und hob es auf. Es handelte sich um ein kleines Büchlein. Ein liebevoll gestaltetes Titelblatt und eine in schöner Schrift geschriebene Überschrift sprachen ihn an:
„Nenn mich Norbert!“
In Spielfilmen taucht in Szenen, in denen der Film und das Leben des Helden eine entscheidende Wendung nehmen, immer ein Symphonieorchester auf. In Tierheimen sind Orchester nicht zugelassen, deshalb fehlte die Musik, als Norbert das Gefühl hatte, er könne Bettina kichern hören. Er riskierte einen raschen Blick in den Zwinger. Der Tierarzt lebte noch und hockte neben dem Hund, der nun nicht mehr knurrte. Die Spritze lag neben ihm, offensichtlich noch nicht injiziert, und die ehemalige Bestie ließ bebend eine mit Blut verkrustete Stelle im Nacken begutachten.
„Was hat er denn?“, fragte Norbert betroffen.
„Beißerei“, antwortete der Tierarzt ohne aufzuschauen. „Hat seinen Gegner übel zugerichtet und einer Mitarbeiterin in die Hand gebissen. Jetzt will ich ihn mir nochmal ansehen, ehe ich ihn einschläfere.“
„Was?!“ Norbert traute seinen Ohren kaum, als er sich sagen hörte: „Aber den will ich doch mitnehmen!“
Das wiederum ließ den Tierarzt aufhorchen.
„Sind Sie sicher?“
‚Nein‘, flüsterte ein Stimmchen in Norberts linker Gehirnhälfte, während die rechte die Kontrolle über das Sprachzentrum nicht wieder hergab. „Natürlich. Glauben Sie, ich würde mit so etwas spaßen?“ Dann ging er in die Hocke, steckte wider besseren Wissens die Finger durch die Gitter und lockte: „Komm her, Norbert! Komm her, Junge!“
„Woher wissen Sie denn, wie der Hund heißt?“, fragte der Tierarzt verblüfft, als sich das Tier erhob und zögerlich in Bewegung setzte.
„Ich sagte doch, ich will den Hund mitnehmen. Da werde ich ja wohl seinen Namen kennen, oder?“
„Ist ja wieder typisch“, ärgerte sich der Veterinär. „Hier weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären nur eine halbe Stunde später gekommen, dann hätten Sie aber blöd geguckt, woll?“
‚Soll das Tierarzthumor sein?‘, ärgerte sich Norbert, während er versuchte, seine Stimme ruhig und entspannt klingen zu lassen, damit er das scheue Tier, das sich vorsichtig näherte, nicht erschreckte.
„So ist brav, Norbert, komm her, Norbert!“, murmelte er leise und spürte die kalte Nase des Hundes, der vorsichtig seine Finger beschnüffelte. Was er über Hunde wusste, hatte er aus dem Fernsehen. Er hatte nie einen gehabt und auch nie einen gewollt. Dennoch rührte ihn etwas an diesem Tier auf eine Art, die er nicht hätte beschreiben können. Vielleicht, weil der arme Kerl genauso einsam schien wie er selbst?
Norbert schickte Bettina die rasche Bitte, sie möge dafür sorgen, dass der Hund seine Finger nicht abbiss. Und tatsächlich, das tat er auch nicht. Im Gegenteil. Er begann zu schnüffeln und suchte die andere Hand, in der Norbert noch das Büchlein hielt. Ganz vorsichtig begann er mit dem Schwanz zu wedeln, und schien von dem Geruch der Hände, die Norbert nun abwechselnd so gut es ging durch die Maschen des Zwingergitters schob, gar nicht genug bekommen zu können.
„Ja, er erkennt sie, keine Frage“, murmelte der Mediziner und kratzte sich am Kopf. „Wird Zeit, dass das Tier hier raus kommt. Zwei Wochen sind für so einen Hund ohnehin schon zu lange, habe ich gleich gewusst. Ich verarzte seine Wunde nur eben, ist nicht so schlimm, wie sie aussieht. Ein paar Tage, dann ist er wieder völlig ok. Machen Sie mal weiter, das lenkt ihn ab.“ Der Arzt sprach beruhigend auf den Hund ein, aber dieser ignorierte ihn völlig. Er schien sich vollkommen auf Norberts Finger zu konzentrieren und schnüffelte mit einer Intensität an ihnen, als ginge es hier um sein Leben.
„So, fertig“, murmelte der Wundenfachmann und packte seine Utensilien weg. „Ich gehe jetzt mit Ihnen nach vorne, damit die alles klar machen können, woll? Wenn sich die Wunde nicht entzündet, spricht in einer Woche kein Mensch mehr darüber. Glück gehabt, Kleiner“, tätschelte er den Hund. „Dein Gegner hatte nicht so viel Glück.“ Dann öffnete er die Zwingertür und hatte Mühe, den Hund zurückzuschieben, der offensichtlich nichts lieber wollte, als sofort zu seinem neuen Besitzer auf die andere Seite des Gefängnisses zu wechseln.
„Nee, nee, du bleibst noch ein bisschen hier, woll?“
Norbert fing den fassungslosen Blick des Hundes auf, der nervös hin und her zu laufen begann und ihn dabei nicht einen Augenblick aus den Augen ließ.
Er hielt noch einmal seine Hände vor das Gitter und sagte: „Ich erledige nur ein paar Formalitäten. Bin gleich zurück. Pass du fein auf!“ Er kam sich schon ein wenig komisch vor, wie er da vor einem wildfremden Hund kniete und mit ihm redete, als könne er ihn verstehen, aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.
Aufmerksam hatte der Hund seinen Worten gelauscht, und sich dann zögerlich hingelegt. Nicht entspannt zusammengerollt, sondern so, als führe er ein Kommando aus, als sei er nur bereit, sich für eine kurze Weile zu gedulden.
Norbert stand auf und folgte dem Tierarzt, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem erhobenen Zeigefinger: „Warte!“ Wenn diese blöden Hundesendungen für irgendetwas gut gewesen waren, dann dafür, dass er wusste, dass gut erzogene Hunde auf präzise formulierte Kommandos reagierten. Offensichtlich gehörte ‚Warte‘ mit der Geste, die er instinktiv gewählt hatte, zum Repertoire dieses Tieres.
Norbert kam sich vor wie der Hundeprofi persönlich, als er sah, wie ‚sein‘ Hund gehorchte. Jetzt würde er draußen dafür sorgen, dass der arme Kerl nicht zu lange dort ausharren musste.
Kapitel 9
Schmerz. Angst. Geräusche. Fremde Männer. Leise Stimme, Beruhigung, Angst, Beruhigung.
Und dann… Ein Wort.
Ein Geruch, ganz klein. Kaum da. Aber vielleicht doch da? Bei dem Mann und dem Wort?
Aufstehen, riechen, riechen, riechen. Ja. Der Geruch. Sie. Ja. Sie. Ein Wort. Noch ein Wort. Ja. Sie. Ja. Der Geruch. Mehr? Hingehen, riechen, ja, sie, ja, sie. Da! Mehr sie. Ja, riechen. Oh ja. Freuen. Ein Wort. Ja. Warten. Ja. Geruch. Ja. Warten. Aber der Mann?
Egal. Der Geruch. Warten. Sie. Vielleicht.
Kapitel 10
Norbert