Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman. Andrea Reichart
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„Nenn mich Norbert!“, las er noch einmal.
„Mich auch“, schmunzelte er und begann zu lesen.
Kapitel 11
„Hallo, mein Name ist Norbert. Lass mich nie von der Leine!“
Verdammt, wo war die Lupe. Aha, da. Also nochmal.
„Hallo, mein Name ist Norbert. Lass mich nie von der Leine!“
„Doch ein Flitzer. Tja, Junge, Pech gehabt“, murmelte Norbert.
„Claudia nennt mich ‚Nobbi‘, ‚Nobs‘ oder ,Pupsi‘.“
‚Pupsi? Nur über meine Leiche!‘, dachte Norbert entsetzt. ‚Nobbi‘ würde schon gehen. ‚Nobbi‘ war ok. Claudia hieß sie also, die Verrückte, die ihren Hund einfach so abgab? ‚Claudia‘ klang schon so egoistisch. ‚Claudias‘ gingen schoppen und hielten sich Modehunde, weil es schick war. ‚Claudias‘ gaben ihre Hunde ins Tierheim, wenn sie in Urlaub flogen. ‚Claudias‘ waren unzuverlässig und oberflächlich und gaben ihren Hunden alberne Kosenamen. ‚Pupsi!‘ So ein Schwachsinn. Die Frau sollte erst einmal lernen, mit Sprache umzugehen.
„Frauchen ist Autorin, und ich liebe sie mehr als mein Leben. Und sie mich auch. Ohne einander sind wir nur halb.“
Eine Autorin? Norbert stutzte. Er galt als einer der erfolgreichsten Agenten der Literaturszene, und mehr als ein Name auf der Beststellerliste war durch seine Vermittlung in den Handel gekommen. Wenn Claudia Autorin war, dann kannte er sie ja vielleicht?
Er blätterte in dem Büchlein und suchte Hinweise auf die Verfasserin, aber es war verflucht schwierig und umständlich, mit der Lupe in der Hand zu lesen und zu blättern. Was hatte die Verrückte sich nur dabei gedacht, diesen Text in so einer winzigen Schrift auszudrucken?
Er fand keinen Hinweis auf ihren Nachnamen und gab die Suche schließlich auf.
„Frauchen muss mich für zwei Wochen bei Freunden abgeben, und deshalb schreibt sie dieses Buch. Wenn alles gut geht, dann lesen dies höchstens Kai und Silke, und bei denen kann ich bis zum 6. Januar nach Herzenslust im Garten toben, denn ich springe nicht über Zäune und grabe mich auch nicht durch. Ich liebe Bewegung, ich liebe es zu spielen, und ich bin lieb, aufmerksam, gelehrig, absolut nicht aggressiv und sehr ruhig. Ich werde am 6. April 2005 drei Jahre alt.“
Norbert schluckte. Das Büchlein war geschrieben worden für die Hundesitter, die Urlaubsvertreter, aber Claudia war nicht zurückgekehrt. Norbert spürte, wie er neugierig wurde. Was war geschehen?
„In diesem Büchlein findest du alles, was du über mich wissen musst. Das soll dir helfen, mir zu helfen, die Zeit zu überstehen, in der meine andere Hälfte nicht bei mir ist. Zwischen Claudia und mir ist es fast so, als könnten wir miteinander sprechen. Ich kenne es von klein auf nicht anders und reagiere auf Worte und Gesten wie ein Taubstummer auf Gebärdensprache. Wenn du versuchst, meine Sprache zu lernen, werde ich versuchen, dir ein ebenso wunderbarer Hund zu sein, wie ich es für Claudia bin. Lies die Kapitel der Reihe nach oder durcheinander, je nachdem, was du suchst. Alles fügt sich am Ende zu einem Bild, und das Bild bin ich.“
Norbert blätterte. Er überflog ‚Fressen‘ und stellte fest, dass er bisher keinen Fehler gemacht hatte. Zweimal am Tag zwei Tassen Hundemüsli, morgens und abends.
„Wenn ich etwas will, dann stelle ich mich neben dich und schaue in die Richtung, in der es ist. Ich schaue nur kurz, also pass gut auf. Wenn du nicht reagierst, werde ich dich nicht belästigen. Ich fiepse nicht, ich jaule nicht, ich belle nur beim Spielen. Dasselbe gilt übrigens fürs Rausgehen. Ich werde dir zeigen, dass ich raus möchte, aber nur leise und unaufdringlich. Dann kann es sein, dass ich vor der Tür auf dich warte. Vergiss mich nicht. Ich vergesse mich auch nicht, egal wie weh mir die Blase tut oder wie groß der Druck ist. Sei also so lieb und achte auf das, was ich dir sagen will. Ich achte schließlich auch auf dich.“
Er blätterte bis zum Kapitel ‚Schlafen‘, denn es war inzwischen spät.
„Ehe wir uns hinlegen, möchte ich noch einmal die Blase erleichtern. Dazu musst du mit mir nur kurz vor die Tür, ein Spaziergang ist nicht mehr nötig, wenn wir schon dreimal draußen waren. Mir reicht ein Baum in Hausnähe. Dann können wir ins Bett gehen. Du schläfst an der Wand, ich neben deinem Kopf. Oder umgekehrt, wie du willst.“
„Wie? Neben meinem Kopf? Im Bett?!“ Norbert war entsetzt. Das kam gar nicht in Frage! Pfui! Erst durch Matsche rennen, dann das Kopfkissen teilen? Spinnt die?
„Du ekelst dich bei dem Gedanken? Na gut, das ist natürlich deine Entscheidung, und ich werde mich fügen. Bestrafe mich aber nicht zu hart, wenn ich nicht sofort verstehe, dass du andere Regeln möchtest, als die, die ich kenne, ok? Wenn du möchtest, dass ich mich hinlege, dann reicht es, wenn du mir mit ruhiger Stimme sagst ‚ablegen‘ und auf eine Stelle zeigst, die du dir für mich ausgesucht hast. Schrei nicht, schimpfe nicht, das bin ich nicht gewohnt. Und habe bitte Geduld. Unter uns gesagt: du weißt nicht, was du verpasst. Es gibt nichts Schöneres für mich, als Kontaktliegen, und es ist ein ganz besonderes Zeichen von Zuneigung, wenn ich den Körperkontakt zu dir suche. Wenn ich versuche, zu dir ins Bett zu krabbeln, dann habe ich dich in mein Herz geschlossen.“
Ganz egal, was in diesem Buch stand, der Hund würde nicht im Bett schlafen. Punkt.
Skeptisch betrachtete Norbert den schlafenden Vierbeiner im Flur. Würde der überhaupt den Weg nach oben finden, wenn er heute Nacht wach würde? Würde er vielleicht doch jaulen? Wie würde er darauf aufmerksam machen, dass er raus müsste? Sollte er ihn wecken und ihm einen Gutenacht-Baum anbieten?
„Nobbi?“, fragte Norbert leise. „Musst du nochmal raus?“ Augenblicklich öffnete der Hund die Augen und sah ihn an. Dann stand er auf, reckte und streckte sich und schaute zur Tür. Da! Das bedeutete garantiert „Ja, gerne!“
Norbert stand auf, suchte die Leine und befestigte sie an seinem Halsband. Dann wickelte er den Hausmantel enger um sich, sagte „Aber nur kurz!“ und ging nach draußen. Der erste Baum stand nur ein paar Meter weiter rechts, und Nobbi ging zielstrebig dorthin, hob das Bein und pinkelte. Und pinkelte. Und pinkelte.
‚Meine Güte, was hast du denn eben im Garten gemacht, wenn du noch so einen Druck hast?‘, fragte sich Norbert und schüttelte den Kopf. So genau hatte er nicht darauf geachtet, was der Hund getrunken hatte. Wahrscheinlich war die Schüssel in der Küche leer. Ihm wurde allmählich kalt, und die unglaubliche Stille draußen dröhnte geradezu in seinen Ohren. Die Nacht war vollkommen windstill. Der Regen hatte aufgehört. Es war kalt. Ein fantastischer Wintersternenhimmel entfaltete sich über ihnen. Irgendwo in dem nahen Wald brüllte ein Rehbock. Was für eine atemberaubende Atmosphäre! Wieso wirkte das nie so, wenn er abends spät hier ankam? Norbert musste zugeben, dass er selten bewusst schweigend ein paar Minuten in der Nacht gestanden, gelauscht und geschaut hatte. ‚Draußen‘ war für ihn eigentlich nur die Strecke, die man überwinden musste, um von einem Gebäude ins nächste zu kommen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie ein Penthouse in der Stadt gehabt. Bettina war diejenige gewesen, die für Natur in jeder Form schwärmte. Sie hatte stundenlang auf der Terrasse sitzen wollen, um die Stille zu genießen. Sie war es, die Sterne beobachtete und Sternschnuppen entdeckte. Gerettet hatte sie das aber auch nicht, dachte Norbert bitter. Dennoch blickte er in den funkelnden Himmel und wünschte sich, sie könne ihn jetzt sehen.
Nach