Gretge. „mit Hexen verwandt, als Hexe verbrannt“. Jürgen Hoops von Scheeßel
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So ging Mette auch an diesem Morgen zu Fuß los. Sie würde bis Mittag bei der Schwester sein. Da das Gespann auf dem Hof benötigt wurde, wollte sie sich nicht fahren lassen. Sie fühlte sich dann auch frei, konnte die Vögel beobachten und Heilkräuter sammeln. Die Stellen – an denen sie wuchsen - kannte sie gut. Das hätte sie mit dem Wagen, den der Großknecht fuhr, nicht gekonnt.
So schlenderte sie auf den Wegen und Pfaden alleine um-her. Ein Weg führte sie durch das Hochmoor, wo kein Pferd und kein Wagen hätten fahren können, wo es aber die richtigen Kräuter gab. Dieser Weg war den Menschen in der Gegend wohl bekannt.
Viele hatten sich durch das Hochmoor einst vor den kaiserlichen Truppen versteckt und damit gerettet. Ihr Bruder Harm selbst hatte sich mit seiner Familie hier versteckt und war unbeschadet auf seinen Hof zurück-gekommen, den er geplündert vorfand, aber nicht abge-brannt.
Auf der halben Wegstrecke und nachdem sie das Hochmoor hinter sich gelassen hatte, kam sie an einem Stein vorbei, der die Grenze der beiden Ämter Ottersberg und Rotenburg markierte. Er stellte aber auch die Grenze zwischen zwei Bistümern dar, denn Rotenburg gehörte zum Bistum Verden, welches nach dem großen Krieg von den Schweden kassiert und zum Herzogtum umbenannt wurde, während Ottersberg zum Erzbistum Bremen gehörte, welches ebenfalls zum Herzogtum wurde. Das war alles große Politik, wovon Mette aber nichts wissen wollte.
Sie traf an diesem Morgen nur wenige Menschen. Gretge, die Mette mehr tragen musste, als ihr lieb war, begleitete sie. Sie zeigte ihrer Tochter die Natur, erklärte ihr dabei Bäume, Sträucher und Kräuter sowie deren Nutzen und Wirken. Gegen Mittag sah sie schon das Dorf ihrer Schwester Tipke, deren Hof gleich am Ortsrand lag.
Es war ein ganzer ungeteilter Hof, wie der ihres Mannes. Das Fachwerk war sehr alt, das Dach strohgedeckt und die Giebelzier anders als in Westeresch, indem die Pferdeköpfe nach außen und nicht nach innen schauten. Die Menschen erzählten sich, dass es eine Tradition aus alten Zeiten war, dass verschiedene Stämme durch bestimmte Zeichen an den Giebelzierden zu erkennen waren.
Zwar wusste niemand mehr, welcher Stamm die Pferdeköpfe nach außen und welche sie nach innen trug. Gewiss war man sich aber darin, dass sie friedlich neben-einander gelebt haben mussten, denn die Nachbardörfer hatten schon mal eine andere Zier.
Es gab auch Dörfer, die hatten gar keine Pferdeköpfe, nicht einmal Windfedern.
Der Hof war von alten Eichen, die teilweise mehr als 250 Jahre alt waren, umgeben. Der Hofplatz war mit einer Steinmauer umrahmt, wobei die Steine lose aufeinander einen halben Meter hoch gelegt waren.
Der Hof hatte ein großes Vierfachständerhaus, wie es im Land überall zu finden war. Es gab noch ein kleines Backhaus, in dem wöchentlich einmal Brot gebacken wurde, wie auch ein Schauer, in dem die Fuhrwerke untergestellt waren. Ihr Schwager hatte zwei gute Acker-pferde, zehn Milchkühe und einen Ochsen. Die Hühner liefen frei auf dem mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofplatz herum.
Eine Scheune und ein Häuslingshaus standen unweit vom Haupthaus entfernt. Beim letzten Mal hatte die Sau sieben Ferkel geworfen, und Mette hatte eines als Geschenk mit nach Hause gebracht.
Die Nachbarn waren neidisch, was Mette an deren Bemerkungen deutlich spüren konnte. Dennoch war es ihr egal, na ja, nicht so ganz, aber ein Hausschwein war schon ein kleiner Reichtum, auf den man gut aufpassen musste.
Zwischen den großen Eichen wuchsen Hestern und allerlei weitere kleine Bäumchen.
Nun waren sie fast am Hoftor angekommen, als sie ihre Schwester schon aus dem Haus kommen und winken sah.
Sie nahm Gretge auf den Arm und ging einen Schritt schneller. Vor ihr stehend, nahm die Schwester beide in den Arm und freute sich sehr über den unerwarteten Besuch. Sie bemerkte wohl, dass Mette etwas umtrieb, bat sie aber erst einmal ins Hausinnere. Sie war mit ihren vier Kindern Hans, Anne, Mette und Peter allein im Haus.
Ihr Ehemann Cord war heute zur Ableistung seiner Dienstpflichten unterwegs und würde erst am späten Abend heimkehren.
Die Schwiegereltern lebten im Häuslingshaus auf Altenteil, nahmen aber an den gemeinsamen Mahlzeiten im großen Haus am Tisch teil. Soweit es ging, halfen sie auf dem Hof oder in der Küche.
Auf dem Hof arbeitete der Knecht und hackte bei der Scheune Holz. Die beiden jungen Mägde kümmerten sich um die Kinder und das Vieh.
Mettes Schwester Tipke schlug einen kleinen Spaziergang vor, wie sie es immer taten, wenn sie sich trafen. Das Haus hatte viele Ohren und die Schwestern hatten schon immer ein sehr inniges Verhältnis zueinander gehabt. Sie gingen aus dem Haus und schlenderten über den Hof, wobei die Holzklotschen klapperten, als sei ein ganzes Fuhrwerk unterwegs. Sie hakten sich unter und verließen den Hof Richtung Bach, der einige hundert Meter entfernt am Rand einer Wiese floss.
Am Bachlauf standen etliche alte, sehr hohe Pappeln, die im Sommer viel Schatten gaben. An einer Kurve, die der Bachlauf nahm, lag ein großer Findling. Das war der Platz, den die beiden Frauen immer aufsuchten.
Sie setzten sich und Mette erzählte ihre Sorgen, was Gretge widerfahren war in allen Einzelheiten. Sie waren sich einig, dass Claus davon nie etwas erfahren dürfte, denn sie fürchteten, er würde im Hause des Nachbarn wüten oder sonst etwas Schlimmes anstellen.
Die Sorgen konnte Tipke ihrer Schwester nicht nehmen, aber es war beiden nach den stundenlangen Gesprächen stets wohler. Wer genau hinschaute, konnte erkennen, dass die beiden Zwillinge waren. Tipke war nur zweimal bei Mette im Dorf gewesen, einmal bei der Hochzeit und danach noch einmal kurze Zeit später. Die Menschen in dem Dorf waren ihr nicht geheuer. Dass man sie dort die doppelte Hexenbrut nannte, hatte sie über drei Ecken gesteckt bekommen.
Hier in ihrem Dorf, wo sie nun lebte, waren die Nachbarn anders und es grenzte sie keiner aus, kannte man doch die Geschichten und Gerüchte über die Mutter und Groß-mutter der beiden. Wer am Moor lebte, und wer sich keinen Arzt leisten konnte, war auf die Kräuterfrauen angewiesen, und die gab es zu Hauff. Sie waren allerdings sehr vorsichtig geworden, denn wer geglaubt hatte, nun, wo man nicht mehr katholisch war, würden die Strafen der Hölle die Menschen nicht mehr erreichen, wurde eines besseren belehrt.
Auch hier im Amt, wo Tipke nun lebte, wurden, seit die Großmutter um die Jahrhundertwende verstorben war, mehrere Frauen der Zauberei angeklagt und drei lebendig verbrannt.
Mette blieb über Nacht bei ihrer Schwester Tipke und ging erst am nächsten Morgen mit Gretge wieder nach Hause.
Es hatte ihr gut getan, mit der vertrauten Verwandten zu reden und intime Sorgen besprechen zu können. Sie beneidete sie ein wenig, gönnte es ihr aber von Herzen, in Cord einen guten, fleißigen Mann gefunden zu haben, der in einem Dorf lebte, wo die Welt noch in Ordnung war, jedenfalls sah es Mette so.
Gegen Mittag waren sie wieder in Westeresch ange-kommen und der kleine Tietke lachte seine Mutter mit hellen Augen strahlend an.
Claus sah diese Ausflüge mit gemischten Gefühlen, denn die Leute im Dorf redeten darüber, warum die Frau über Nacht fortblieb und was sie wohl machte. Die Vermutungen gingen so weit, dass man offen darüber sprach, die ging in den Wald zu den Waldhexen und lehrte ihre Tochter Gretge, die sie stets mitnahm, das Hexen.