Die weise Schlange. Petra Wagner

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Die weise Schlange - Petra Wagner

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- wenn man von den Speeren auf Höhe der Herzen absah, und natürlich von dem Fehlen der Köpfe. Es wirkte schon fast skurril, wie statt der Köpfe die Pfähle emporragten; als hätte sich hier jemand einen bitterbösen Scherz erlaubt. Ein Detail war besonders merkwürdig: Zu beiden Seiten der Pfähle waren Ohren angebunden und zwar genau an der Stelle, wo normalerweise Ohren wären, wenn die Köpfe noch dagewesen wären.

      Loranthus fragte sich, wozu diese explizite Anordnung gedacht war; für bestmögliche Sicht waren sogar besonders dünne Lederriemen zum Anbinden verwendet worden. Wieso stellte jemand so ausdrücklich Ohren zur Schau, wenn der Rest vom Kopf genauso deutlich fehlte?

      Selbst Viviane schien intensiv darüber nachzudenken; sie betrachtete jedes Ohrenpaar auf das Genaueste, bevor sie ihre Stute zu einer etwas schnelleren Gangart antrieb. Loranthus war froh, den Ort des Grauens hinter sich lassen zu können, denn schon hörte er, wie sie wieder anrückten, wie sie flatterten und krächzten, die Raben. Er sah es förmlich vor sich, wie sie an dem lose baumelnden Fleischfetzen zerrten, und nun endlich verspürte er den heftigen Drang, die Augen zu schließen. Während Arion für stetig wachsenden Abstand sorgte, wischte sich Loranthus fahrig übers Gesicht, als könne er die Bilder vertreiben, wenn er nur lange genug die Augen zu ließe. Doch als er es endlich wagte, durch seine Fingern zu spähen, stöhnte er matt auf. Zu etwas anderem hatte er keine Kraft mehr, weil da nun noch mehr Tote waren. Noch mehr verstümmelte Körper, noch mehr Speere, noch mehr Lederriemen, noch mehr Pfähle, noch mehr Ohren … angeordnet zu einem langen, entsetzlichen Spalier.

      Wie abgemessen flankierten sie eine ewig lange Gerade, etwa alle fünfzig Schritt stehende Leichen rechts und links. Loranthus konnte die Augen zupressen, so viel er wollte – er musste mitten durch sie hindurch, und er wusste: Dieses Schreckensszenario würde ihn in seine schlimmsten Träume verfolgen.

      „Ein Dutzend Krieger der Chatten. Stehen erst einen Tag hier, vielleicht auch zwei, aufgrund der letzten Schneeschauer kann ich das nicht genau sagen. Planten offensichtlich einen hinterhältigen Überfall und wurden dabei von unseren Kriegern erwischt. Schau.“ Viviane deutete auf das letzte Paar Ohren.

      Loranthus hatte Mühe, hinzusehen, aber er wollte Viviane nicht enttäuschen. Wenn sie ihm schon die Frage beantwortete, die er sich vor Kurzem selbst gestellt hatte, wollte er es jetzt auch genau wissen.

      „Du meinst, diese zwölf Chattenkrieger wollten jemanden aus dem Hinterhalt überfallen? Sie wurden jedoch entdeckt und stehen nun zur Abschreckung hier?“, würgte er hastig heraus, um nichts anderes herauszuwürgen. „Wurden sie deshalb so hart bestraft?“

      „Garantiert. Wollten sicher einen lohnenden Abstecher über die Grenze machen. Wir Hermunduren sind friedlich, aber unsere Gesetze sind genauso streng wie anderswo auch. Diese Schwachköpfe.“ Viviane spuckte aus. „Haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht.“

      Mit diesen Worten traten die Pferde aus dem Wald heraus und Loranthus atmete auf. Völlig unerwartet hatte sich die Enge des Waldes in weites, offenes Land mit sanft geschwungenen grünen Flächen gewandelt. Ein breiter Fluss schlängelte sich gemächlich dahin und an seinem Ufer stand das angekündigte Gasthaus. Genauer gesagt war es ein Gastdorf mit einem großen Langhaus, einem Lagerhaus auf Stelzen und etlichen kleinen Hütten, die zur Hälfte in der Erde steckten, dazwischen Obstbäume in voller Blüte und saftig-grüne Wiesen. Drei Seiten waren von Hecken umgeben. Die vierte grenzte an den Fluss und wurde von einem dichten Schilfgürtel gesäumt. Es gab sogar einen Anlegesteg für eine Fähre.

      Gleich linker Hand, über dem Fluss, erhob sich ein stattlicher Berg, der keine Bäume auf seiner Kuppe hatte, sondern eine Burg mit einem langen Wall aus Steinblöcken und Holz. Wachtürme thronten auf dem Burgwall. Von dort aus hatte man sicher die beste Sicht über das Land, über jedes Haus, jeden Hügel und jeden Berg bis zu den hohen Gebirgszügen in weiter Ferne.

      Viviane breitete ihre Arme aus.

      „Das geeinte Großkönigreich der Hermunduren. Willkommen in meiner Heimat!“

      „Ah, der hercynische Wald! Davon habe ich bereits viel gelesen!“ Begeistert deutete Loranthus auf die endlos grünen Höhenzüge am Horizont.

      Viviane stutzte, dann huschte ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht.

      „Die Schriften erzählen von einem ‚hercynischen Wald‘, als wären unsere Berge, unsere Wälder ein einziges riesiges Gebirge. Das ist ein alter Hut. Die Römer, die jetzt hinter dem Rhein leben, kennen die Berge und Gebirgsketten mit Namen, wenigstens die ihrer eroberten Provinzen. Schau, Loranthus! Das Gebirge zur Linken ist unser Thuringer Wald und rechts, das ist Raino, mein Zuhause.“

      „Bereits der hochgelehrte Aristoteles sprach in seinen Niederschriften vom ‚hercynischen Wald‘. Er sagt darin, dass es ein riesiges Gebiet umfasst. Er meint ganz bestimmt dieses hier, genau vor meinen Augen.“ Loranthus schaute ziemlich pikiert auf Viviane, bis ihm einfiel, dass nicht sie das Gebirge war. Rasch drehte er sich um und machte eine weit ausholende Geste.

      Viviane legte den Kopf in den Nacken. „Wenn ich dir so zuhöre, könnte ich denken, du würdest dich hier besser auskennen als ich. Loranthus. Überlege. Es ist doch ganz logisch. Cäsar hat von Aristoteles abgeschrieben. Sie waren beide noch nie hier. Von wem hat also Aristoteles abgeschrieben?“

      „Aristoteles war ein Gelehrter. Er muss es wissen.“

      „Eben. So hat Cäsar auch gedacht und wer weiß, wer noch. Aber vielleicht hat Aristoteles etwas verwechselt oder er meinte gar nicht den Namen als solchen, sondern die Ausrichtung unserer Gebirge. Ja, Loranthus, die Ausrichtung, das könnte alles erklären. Pass auf!“

      Viviane streckte ihre Hand nach der untergehenden Sonne und schwenkte sie zurück zum Thuringer Wald.

      „Die meisten Gebirge haben eine Nordwest-Südostausrichtung. Raino hingegen ist ein variszisches Gebirge. Das erkennst du an der Nordost-Südwestverwerfung.“

      Loranthus besah sich skeptisch den rechten Winkel, den Vivianes Arme bildeten.

      „Mag sein. Ich bleibe trotzdem bei ‚hercynischer Wald‘, so habe ich es gelernt.“

      Viviane verdrehte die Augen. „Gelernt. Loranthus, ich versichere dir: Der Thuringer Wald ist hercynisch, Raino ist variszisch. Das ist nur logisch.“

      Loranthus schüttelte stur den Kopf.

      Viviane schnippte mit den Fingern in Richtung der Gebirge. „Hercynisch. Variszisch.“

      „Nein, Aristoteles sagt …“

      Hanibu kippte gegen Viviane und schnarchte leise.

      Viviane zischte noch leiser: „Jetzt hör mal gut zu. Wenn ich sage …“

      „Mmh!“ Loranthus reckte die Nase in die Höhe und schnupperte genüsslich: „Hier riecht es höchst verlockend nach Braten!“

      Dieser scharfsinnige Themenwechsel kam Viviane gerade recht, denn auch sie hatte den appetitlichen Geruch bemerkt und nun lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Wie gern würde sie etwas Besseres zu beißen bekommen als ihr alterndes Brot im Verpflegungsbeutel.

      „Wir sollten uns beeilen, damit wir noch was abbekommen“, riet Loranthus und wollte Arion antreiben, doch der hörte nicht auf ihn, sondern ließ Dina den Vortritt.

      Nach etwa dreihundert Schritt endeten Loranthus’ Ungeduld und der Weg an einem schweren Eichentor, das in die hohe Hagebuttenhecke eingelassen war. Passenderweise war es von der

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