Die weise Schlange. Petra Wagner
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Bei den heutigen abrupten Wetterumschwüngen trug man besser einen dicken Filzmantel mit Kapuze statt eines dünnen Umhangs, und sei er auch noch so edel. Sandalen an nackten Füßen waren bei diesem frischen Wind auch reichlich gewagt, erst recht, wenn man keine Hosen anhatte. Zum Glück ging seine Tunika als kurzes Kleidchen durch – es sah drollig aus.
Weil die Beine darunter so stark behaart waren, erinnerte er an eine Stachelbeere – eine ziemlich saure noch dazu. Ja, bei genauerem Hinsehen kam ihr das mürrische Mienenspiel bekannt vor. Tatsächlich. Es war noch gar nicht lange her, da hatte sie den jungen Mann schon einmal gesehen. Es war sogar zur selben Tageszeit gewesen, gegen Abend. Nur der Ort war ein anderer. Damals, im Hafen von Londinium, war der Grieche anstandslos sauber gewesen und hatte höchst pikiert getan; wenn es geregnet hätte, wäre ihm das Wasser in die Nase gelaufen. Heute sah es eher danach aus, als hätte ihn jemand an der Nase gepackt und durchs Wasser gezogen, durch ziemlich dreckiges noch dazu. Jede seiner Gesten, jeder Fluch, jedes Schimpfwort spritzte förmlich von ihm weg.
Und das Lamentieren nahm kein Ende: Sein Leibsklave hatte sich wegen einer Sklavin geprügelt und ein Messer in den Hals gerammt bekommen. Jetzt hatte er keinen bärenstarken Beschützer mehr, nur noch ein Häufchen Asche in einer Urne, aber dafür diese mickrige Sklavin am Hals. Und kaum hatte er sich ein winziges, winziges bisschen mit dem Verlust abgefunden und mit dem schlechten Geschäft, waren sechs Räuber gekommen. Nun war der Wagen weg, die Pferde waren weg, die Geschenke waren weg, die Kleider waren weg, sämtliche Utensilien waren weg, ja, sogar die Urne mit der Asche war weg – und das alles nur, weil eine mickrige Sklavin auf hundert Schritt Entfernung seinen Leibsklaven bezirzt hatte, obwohl sie sich nicht mal nackt ausziehen wollte! Der Idiot hatte sich geprügelt und ein Messer in den Hals gerammt bekommen …
Nach der dritten Runde kannte sie die ganze griechische Tragödie auswendig und senkte ihren Blick auf den Weg. Wenn dieser nicht so fest gewesen wäre, hätte der Mann mit seinen Ledersandalen schon eine Spur hineingetrampelt, eine lange Spur, die von einer Wegbiegung zur nächsten reichte.
Dort, am hinteren Ende seiner Runde, kauerte eine junge, dunkelhäutige Frau auf einem umgefallenen Baumstamm. Das musste die besagte Sklavin sein. Ihre ebenholzfarbenen Haare waren zu vielen dünnen Zöpfen geflochten, die ihr bis auf die Hüften fielen. Darunter trug sie einen ehemals wollweißen Umhang, der nun regelrecht starrte vor Dreck, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Sie war wie eine Perle, eine kleine, zarte, schwarze Perle; kein Wunder, dass sie einen Mann auf hundert Schritt bezirzt hatte. Allerdings funktionierte das nicht bei jedem.
Der Grieche beachtete sie kaum, als er erneut bei ihr umdrehte. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, seinen schwarzen Lockenkopf zu raufen und die sechs Räuber zu verfluchen. Es waren äußerst fantasievolle Flüche mit seltsamen Tieren, die von anderen Arten zerquetscht, zerstückelt, gebraten, gekocht und gefressen wurden; die reinste Fressorgie im Reich der Mischwesen.
Auf Griechisch hörte sich das lustig an, fand Viviane und musste sich das Lachen verkneifen, während der Schreihals seine Faust in die freie Hand drückte und wieder in ihre Richtung stapfte. Beinahe wäre er in ihr Pferd gelaufen, so emsig war er damit beschäftigt, sechs Räuber zu zermürben, um als Futter für die vielen Schlangen auf dem Haupt der Medusa zu dienen. Gerade noch rechtzeitig hob er den Kopf und riss die Augen auf.
Viel konnte er nicht sehen, Vivianes Gesicht lag tief unter ihrer Kapuze verborgen. Dagegen war sein Mienenspiel, von ihrer Warte aus, bestens zu erkennen.
Darin spiegelten sich Erschrecken, Nachdenken, Argwohn und Vorsicht. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und eine Schweißperle kroch seine Schläfe hinab. Ein Augenlid zuckte, die Perle kroch schneller … Sein sonnengebräuntes Gesicht bekam einen Stich ins Grünliche – er hatte das Atmen vergessen.
Mal warten, wie lange er das durchhielt. Wegen ihre Kapuze konnte er nicht sehen, wie prächtig sich Viviane hier amüsierte. Es war wirklich interessant: Dieser eingebildete Grieche, diese Stachelbeere auf Stelzen, dieser wandelnde Schreihals, der Medusas Schlangen allesamt persönlich füttern wollte, hatte tatsächlich Angst vor ihr. Da konnte sie sich durchaus geehrt fühlen. Gleich würde er ihr vor die Füße kippen vor lauter Ehrfurcht. Nun wurde es aber langsam Zeit zum Weiteratmen.
„Darf ich euch meine Hilfe anbieten?“, fragte sie mit melodiöser Stimme in perfektem Griechisch und schwenkte die Hand von ihm zu der schwarzen Perle und wieder zurück. Sein Mund formte ein stummes ‚Oh‘ und blieb in dieser Position. Eine Antwort brachte er nicht zustande, obwohl er die Geste und auch ihre Frage verstanden haben dürfte. Er schien auch vergessen zu haben, dass er einfach bloß nicken bräuchte. Dafür war ihm wieder eingefallen, wie Atmen ging. Reichlich spät – er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen; mit den großen Glupschaugen und dem wirren Haarschopf sah er aus wie eins seiner eigenen Mischwesen. Vielleicht ein dürrer Hecht mit schwarzen Ringelwürmern auf dem Kopf – Medusa wäre entzückt.
Der Ärmste. Das war wohl etwas zu viel für ihn. Erst eine brutale Räuberbande und jetzt auch noch eine griechisch sprechende Kapuze.
„D… du bist eine K… Kelta?!“, quiekte er und blinzelte hektisch.
War das nun eine Frage gewesen oder nicht? Egal. Immerhin hatte er schon herausgefunden, dass er es mit einem weiblichen Wesen zu tun hatte, das nördlich von Griechenland wohnte – im Großen und Ganzen eine ziemlich gefährliche Gegend; sagten zumindest die Römer, und die hatten viel zu sagen – die Griechen nicht mehr, wie man hier am praktischen Beispiel sehen konnte.
Der Grieche zitterte ein bisschen und trat von einem Bein aufs andere. Es hatte den Anschein, als wollte er gleich davonrennen – die Griechen waren ja bekannt für ihre Langstreckenläufer. Dazu sollte er sich vorher ordentlich warm machen, hierzulande war das besser.
„So, so, wenn ich eine Keltin bin“, grollte es dunkel aus der Kapuze, „dann bist du ein Ausländer, genauer gesagt ein Grieche, nicht zu verwechseln mit Römer.“ Die Kapuze beugte sich tief zu ihm hinunter und schnaubte: „Ich finde es nämlich sehr nett, dass du mich als ‚hochgewachsen‘ oder gar ‚herausragend‘ bezeichnest. Ja, ich fühle mich geradezu geschmeichelt. Die Römer machen nicht so feine Komplimente wie du. Warum wohl nicht …“
Nun kam eine Art Schnurren aus der Kapuze. Eine römische Maus wäre spätestens jetzt davongerannt.
„Bei Hera, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt! Ich wollte dir keinen Honig ums Maul schmieren, ach, was red ich da! Ich meinte, ich wollte mich nicht einschmeicheln. Das Wort ist mir so herausgerutscht aus … nun ja, aus reiner Gewohnheit, weil wir euch alle so nennen! Euch alle, die ihr hier …“ Er machte eine weit ausholende Geste und sah mit Entsetzen, dass nur Bäume hier waren. Begütigend hob er die Hände. „Ich k… kann dich auch anders! Wäre dir G… Galata…“
„Spar dir die Mühe!“ Ungeduldig riss sie die Hand hoch und hackte die Luft in zwei Teile. „Ich weiß, dass ich milchig-weiße Haut habe gegen dich!“ Zum Beweis wedelte sie mit ihrer Hand vor seiner Nase herum.
Schlagartig wurde er blass, krallte seine Hände am Umhang fest und begann, am ganzen Körper zu schlottern. Wenn der Grieche jetzt einen Kollaps bekam, war das ihre Schuld, dachte Viviane. Sie sollte lieber aufhören mit dem Katz-und-Maus-Spiel und endlich das tun, was sie angeboten hatte, nämlich helfen.
„Mein Name ist übrigens Viviane.“
Geschmeidig stieg sie vom Pferd und ergänzte: „Viviane vom Clan des edlen Hirsches Cernunnos, des verborgenen Gottes. Tochter von Flora, der Kräuterfrau, und Arminius, dem Schmied, Sippschaft von Mara und Anu väterlicherseits, Dana und Archu mütterlicherseits vom Stamm der Hermunduren aus