Die weise Schlange. Petra Wagner
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Feixend streckte er also seine Arme weit vor und stellte den exakten Stand der Sonne ein, beziehungsweise den des kleinen Segels. Dabei verdrehte er jedoch seine Augen bis zum Äußersten, um die Ziege im Blick zu behalten.
Sie zuckte mit den Schultern, reckte ihre Stupsnase gen Himmel und schlenderte davon. Was tat sie nun? Er musste seine Augen noch mehr verrenken … Sie klatschte in die Hände und stieg doch tatsächlich durch die Luke unter Deck!
Loranthus riss Mund und Augen auf. Hastig steckte er sein Astrolabium zurück unter die Achsel und klemmte es gut fest. Er brauchte jetzt beide Hände, um sie sich vor den Mund zu halten, so entsetzt war er. Diese junge Römerin war nicht nur arrogant, herrisch und weiß die Harpyie noch was – sie war auch dekadent. Absolut entartet, in diesem Alter und als Weib, man stelle sich das vor! Denn eines war klar wie der Himmel: Er wusste, was das für ein Schiff war und er wusste, was dort unter Deck vor sich ging.
Eine junge, reiche Römerin, die bald in den Adelsstand einheiraten und noch reicher werden sollte, die bei so etwas Abartigem, so etwas Scheußlichem dabei sein wollte – das war ja wohl das Schlimmste, was er je gesehen hatte.
Loranthus fühlte einen starken Brechreiz, doch sein Magen war zum Glück leer. Es hätte ihm sowieso niemand beistehen können, sein Vater war ja mit der gesamten Besatzung in dieses billige Gasthaus gegangen. Alle waren gemütlich am Zechen und Würfeln oder womit man sich sonst noch ablenken konnte. Einen kurzen Moment hatte er gar den Eindruck gehabt, sein Vater wolle bewusst von diesem berüchtigten Schiff neben ihnen ablenken. Zum einen hatte er dem Kapitän des letzten Schiffes geraten, mit der Flut auszulaufen, er wolle das auch bald tun, denn ein Sturm ziehe auf. Dabei waren am Himmel höchstens die Anzeichen für eine starke Brise zu erkennen gewesen. Zum anderen hatte er sämtliche nicht auslaufende Seefahrer zu einem Abschiedstrunk an Land eingeladen, sogar die Hafenarbeiter waren mit von der Partie. Obwohl daran eigentlich nichts seltsam war. Sein Vater war ein sehr reicher Mann – viel reicher als manch ein Adliger – und lud ständig irgendwelche Leute zu einem geselligen Beisammensein ein. Ergo konnte das auch Zufall sein.
Loranthus schürzte die Lippen. Wenn er recht darüber nachdachte, gab es noch einen Zufall: Das war jetzt schon das dritte Mal, dass sie im Laufe der Jahre hier im Hafen von Londinium lagen und an einem anderen Schiff, das Sklaven transportierte, irgendetwas kaputtging. Nichts Ernstes, es ging nie unter, aber es handelte sich stets um einen Defekt, der es manövrierunfähig machte. Vor Jahren, bei der ersten Havarie, hatte er sogar geträumt, sein Vater wäre mitten in der Nacht durch die Tamesas getaucht und hätte mit einem Schwertfisch Löcher in den Schiffsrumpf gebohrt.
Als er das am nächsten Morgen seinem Vater erzählt hatte, hatte der nur mit dem Kopf geschüttelt und sehr streng gefragt, ob Loranthus Wein getrunken habe. Und ja, er musste zugeben, dass er sich einen Becher stibitzt hatte, von einem Römer, der eingeschlafen war. Er hätte noch mehr organisieren können, denn es war ein ausuferndes Fest anlässlich des fertig gebauten Hafens gewesen. Ein großer Hafen, darauf konnten sich die Römer wirklich etwas einbilden. Aber damals war Loranthus erst zwölf oder dreizehn und auch er hatte sich gar viel eingebildet.
Zum Beispiel war er überzeugt gewesen, sein Vater sei Poseidon in Menschengestalt, weil er, als dessen Sohn, so mühelos schwimmen konnte wie ein Fisch. Wenn er so recht darüber nachdachte, glaubte er das immer noch.
„Bei Medusa“, japste Loranthus. Hastig riss er sein Astrolabium hoch und tat beschäftigt.
Diese grässliche Römerin kam wieder durch die Luke empor, gefolgt von sämtlichen Seefahrern. Die Männer schienen gewachsen zu sein, wahrscheinlich wollten sie sich vor ihr großtun, um sie zu beeindrucken. Sie verteilten sich an Deck und machten das Schiff zum Auslaufen fertig, ohne dass ein einziger Befehl nötig gewesen wäre. Es war auch niemand da, der ihnen Befehle hätte erteilen können – der Kapitän war offenbar als Einziger unter Deck geblieben, das tat er oft. Und wie bereits zuvor gebärdete sich auch die Römerin wieder, als gehörte das ganze Schiff ihr.
Sichtlich zufrieden schaute sie einmal rundum, ob alle Männer fleißig arbeiteten, und ging dann schnurstracks zum Bug. Mit einem Satz sprang sie auf die Reling, beschirmte die Hände mit den Augen und schaute zur Sonne.
So blieb sie stehen, selbst als das Schiff abgestoßen wurde und heftig zu schaukeln begann. Sie winkte Loranthus sogar zu, als sie nah an ihm beidrehten. Es sah fast aus wie ein Dankesgruß. Aber da konnte er sich durchaus täuschen, denn wegen ihrer erhobenen Hand konnte er ihr Gesicht nicht sehen und sie winkte auch zum letzten Schiff hinüber, das sich ebenfalls zum Auslaufen bereitmachte.
Diese Römerin, diese extravagante, entartete, erschien ihm auf einmal wie verwandelt. Ihr feines Gewand blähte sich wie ein Segel im Wind, ihre langen dunklen Haare flatterten wild und die Abendsonne tauchte ihre ganze Gestalt in rosiges Gold. Sie war herrlich anzuschauen, die reinste Pracht, und plötzlich hatte Loranthus einen Geistesblitz: So, und nicht anders, musste die Göttin der Freiheit aussehen.
Glück im Unglück
Der dichte Wald verschlang die Strahlen der Frühlingssonne und tauchte alles ringsum in kühle Schatten.
Der Reiter, der unter dem sprießenden Blätterdach dahintrabte, war von einem braun karierten Wollmantel verhüllt und hatte sich die Kapuze tief übers Gesicht gezogen. Die Füße steckten in kunstvoll gearbeiteten, warmen Lederstiefeln; innen mit Lammfell, außen mit Schnürung versehen. Nur die zierlichen Hände waren nicht bedeckt – die Hände einer Frau.
Sie saß auf einer kleinen, aber kräftigen grauen Stute, beugte sich vor und flüsterte:
„Jetzt sind wir bald am Ziel, mein Mädchen.”
Als hätte sie jedes Wort verstanden, hob die Stute den Kopf und schüttelte ihre lange, silberne Mähne.
Ein viel größerer, ebenfalls grauer Hengst mit Silbermähne lief an einer derben Leine hinter ihr. Er war über und über mit großen Ledertaschen bepackt, doch er konnte den schnellen Trab locker mithalten, in den die Stute wie von allein gefallen war. Auch er spürte die erwartungsvolle Stimmung und wenn er gewollt hätte, wäre er mit seinen langen Beinen einfach an der Stute vorbeigezogen, doch er war wohlerzogen und sehr gehorsam.
Er würde es gut haben in diesem neuen Land, bei seiner neuen Herrin, das wusste er instinktiv. Wachsam betrachtete er die dichten, grünen Büsche und die großen Bäume am Wegrand. Wie in seiner Heimat sah es hier aus. Es roch sogar fast gleich. Mit weit geblähten Nüstern saugte er die frische Luft ein.
Etwas veränderte sich gerade.
Er scheute im selben Augenblick wie die Stute. Der Wind hatte ihnen einen fremden Geruch zugetragen: Schweiß auf Menschenhaut, vermischt mit dem schnell angetriebener Pferde.
Unruhig tänzelten die Grauen auf der Stelle. Die Frau tätschelte der Stute den Hals und schaute sich um. Zu sehen war nichts Beängstigendes, aber dem Gespür der Tiere konnte sie blind vertrauen und so führte sie die beiden vom Wege ab. Nach ein paar Schritten durch junge Hainbuchen hatte sie der Wald unsichtbar gemacht.
Zufrieden knabberten die Pferde an hellgrünen Sprossen, nur ihre Ohren drehten sie in den Wind und lauschten. Die Frau drehte sich mit. Ihre Haltung zeigte Wachsamkeit, jedoch keinerlei Angst. Alle drei verhielten sich so ruhig, als wären sie Meister des Versteckspiels.
Lange mussten sie nicht warten, schon wurden Hufschläge