Die weise Schlange. Petra Wagner
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Allerdings zog er ein Gesicht, als müsse er noch mindestens drei Tage lang über seinen Namen nachdenken, und es war nicht sicher, ob er dann einen parat haben würde. Sie sollte ihm ein wenig auf die Sprünge helfen.
Elegant schlug sie ihre Kapuze zurück und lächelte.
Scheinbar hatte die Abendsonne extra auf diesen Moment gewartet. Sie gleißte genau zwischen zwei Baumwipfeln auf und ließ Vivianes Haare in den schönsten Rot- und Brauntönen schillern wie flüssiges Mahagoni. Ihre moosgrünen Augen strahlten in ihrem Gesicht wie Smaragde auf feinster rosa Seide.
Dem jungen Mann fiel die Kinnlade herunter. Bei Aphrodite! So musste sie aussehen, diese Göttin des Olymps, zart und ebenmäßig und anmutig und … allmählich gewann sein Verstand wieder die Oberhand.
Er schluckte und sogleich sprudelte es aus ihm heraus wie ein Wasserfall: „Ich bin gerade eben überfallen worden! Sie haben meinen Reisewagen, meine Rappen und meine gesamte Habe mitgenommen! Es waren sechs bärenstarke, grobe Kerle! Echte Schurken, absolut brutal! Haben mir fast den Finger gebrochen, um an meinen Siegelring zu kommen! Wenn ich die noch mal in die Finger kriege!“
Wild gestikulierend unterstrich er seine Worte und zeigte seinen rechten Mittelfinger, auf dem nur noch der Abdruck seines Siegelrings zu sehen war. Unvermittelt lächelte er verlegen.
„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Loranthus. Loranthus, Sohn des Madenius, Sohn des Kalidus, Sohn des Falagus, älteste und bedeutendste Händlerdynastie aus Kreta, der Wiege des Zeus, und, man beachte, ein Bürger Roms.“ Er stellte sich in Pose, Brust raus, Bauch rein.
„So, so, ein griechischer Händler mit römischem Bürgerrecht“, tönte Viviane und musste sich das Grinsen verkneifen - zum einen, weil er sie offenbar nicht wiedererkannte, zum anderen, weil sein Bauch trotz seiner Bemühungen immer noch abstand. „Hast du das auch schriftlich?“
Loranthus wurde schlagartig blass. Seine Dokumente waren auch alle weg.
„Keine Bange, dein Wort reicht mir“, beruhigte ihn Viviane, bevor er wieder zum Hecht wurde. „Du kannst von Glück reden, Loranthus aus Kreta, dass die Räuber bloß an deiner schicken Kutsche interessiert waren.“ Dass sie die Räuber samt Beute gesehen hatte, verriet sie ihm nicht. Dass sie ihn bereits vom Sehen her kannte, verriet sie ihm erst recht nicht. Womöglich wäre er auf die Idee gekommen, mit ihrer Hilfe die Verfolgung aufzunehmen, und eine derart interessante Heimreise wollte sie nun doch nicht haben.
„Da wäre ich mir nicht so sicher!“ Loranthus hob den Zeigefinger und lächelte grimmig. „Meine Sklavin wollten sie mit sich zerren, aber sie hat sich gewehrt, hat wie eine Wildkatze gekratzt und gebissen. Dem einen Schurken hat sie übel mitgespielt, bis der Anführer ihn endlich zurückgepfiffen hat.“
Loranthus stemmte die Fäuste in die Hüften, räusperte sich und rief mit dröhnend-tiefer Stimme: „Mit solch einer Furie hast du keine Freude. Da musst du Angst haben, einzuschlafen. Lass sie. Such dir woanders ein braves Lämmchen. Ich brauch dich schließlich im Ganzen. Ha, ha, ha.“
„Was sagst du?! Der Anführer dieser Räuberbande hat in der Mundart der Hermunduren gesprochen?!“ Viviane strich sich über die Stirn. In ihrem Kopf wirbelten viele Fragen durcheinander. Die drängendste war: Seit wann betätigten sich Krieger der Hermunduren als Räuber? Das war schlichtweg unmöglich, und daraus folgte: Wer tarnte sich hier als Hermundure und raubte noch dazu ausländische Händler aus? Was sollte das, abgesehen von der Beute, für einen Nutzen bringen? Von den diplomatischen Verwicklungen ganz zu schweigen, denn einen Bürger Roms raubte man nur einmal aus. Manchmal lebte man danach noch lange genug, um seine Taten Tag und Nacht zu bereuen, in den Bergwerken oder auf den Galeeren zum Beispiel. Manchmal musste man sich mit dem Bereuen beeilen, besonders wenn man in einer Arena landete. Wer also brauchte sich keine Sorgen darüber machen, früher oder später als Futter für Tiere zu enden? Wer wollte vielleicht sogar einen Streit zwischen Hermunduren und Rom provozieren? Für die Gerichtsverhandlung stünde sogar ein glaubhafter Ankläger zur Verfügung.
Achtung heischend hob Loranthus wieder den Finger und sagte in seiner eigenen Tonlage: „Ganz recht, er hat exakt in dieser Mundart gesprochen. Bestimmt war der Idiot der Meinung, ich könne ihn nicht verstehen und erst recht nicht diverse Dialekte auseinanderhalten.“ Überheblich den Kopf schüttelnd, zupfte er Gras von seiner dreckigen Tunika.
So ein dummer Anführer aber auch. Er hätte sich doch denken können, dass Griechen, die hier alle tausend Jahre mit Kutschen aufkreuzten, die Mundart der Hermunduren von den vielen anderen Dialekten unterscheiden konnten! Das Zusammentreffen dieser Zufälle war so wahrscheinlich, wie dass ihre Mutter sie nicht mehr erkennen würde.
Viviane grinste breit. Dass zufällig aufkreuzende Hermunduren auch mehrere Sprachen konnten – auf den Gedanken war Stachelbeerchen wohl nicht gekommen. Deshalb blieb sie beim Griechischen, Loranthus’ dümmliches Gesicht, als sie ihn damit angesprochen hatte, noch vor Augen.
„Warum hast du deiner Sklavin …“ – sie verzog geringschätzig das Gesicht – „… nicht geholfen?“
„Geholfen?“ Irritiert sah er von dem Matschfleck auf, den er gerade noch tiefer in seine Tunika hineinrubbelte. Es war offensichtlich, dass er noch nie auf eine solche Idee gekommen war.
„Oh, ich hatte ganz vergessen, zu erwähnen, dass mich der von allen wohl am meisten Stinkende festhielt.“
„Nur Einer? Was war mit den anderen?“
„Die machten sich über den Wagen her und begutachteten ihre Beute. Ich hatte jede Menge Handelsgüter dabei, musst du wissen, lauter teure Waren. Ich hatte besten Weihrauch aus …“
Es folgte eine akribische Aufzählung sämtlicher Handelsgüter inklusive Preise und Herkunftsländer, doch Viviane hörte gar nicht hin. Ungläubig pendelte ihr Blick zwischen Loranthus und seiner Sklavin hin und her.
Was musste das für ein Schlaffsack sein, wenn er nicht mal mit einem Mann fertig wurde? ‚Stachelbeere‘ war wohl eine sehr treffende Bezeichnung für ihn: Beim kleinsten Fingerdruck schon zermatscht. Da ging man am besten drüber hinweg. Die Sklavin brauchte mehr Aufmerksamkeit. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie zaghaft herüber und kauerte sich wieder zusammen. Ihr linker Arm hing schlaff und viel zu tief an ihrer Seite herab.
Viviane ließ Loranthus reden und ging auf die schwarze Wildkatze zu. Eigentlich war es eher ein braunes Kätzchen, sehr zierlich und etwas jünger als sie selbst.
Freundlich sah Viviane in das verweinte Gesicht und zeigte auf die linke Schulter. „Darf ich mir das einmal ansehen?“, fragte sie ganz sanft auf Griechisch. Für einen Moment wurden die fast schwarzen Augen weit vor Erstaunen, dann nickte die Sklavin scheu.
Vorsichtig zog Viviane den verdreckten Umhang weg und tastete den Schulterbereich ab. Der Arm war ausgekugelt, und die Sklavin schien sich dessen bewusst zu sein, ihrer ängstlichen Miene nach zu urteilen. Beruhigend strich ihr Viviane über die Wange und fragte wieder auf Griechisch: „Kannst du mich gut verstehen?“
Sie nickte wieder scheu.
„Wenn du einverstanden bist, renke ich deinen Arm ein, aber das wird für einen Moment sehr schmerzhaft sein.“
„Das kannst du?“, kamen die ersten, zaghaften Worte von ihr.
„Selbstverständlich!