Die weise Schlange. Petra Wagner
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Merdin musste lachen, weil die Frauen mit großen Augen dastanden und keine Antwort gaben.
„Nun guckt nicht so entgeistert! Ihr könnt es ruhig glauben! Der Kleine lebt! Gesund und …“ Merdin starrte auf das Baby, das immer noch zwischen seinen ausgestreckten Armen hing, dick verpackt in seinem Mantel, den Kopf schlaff nach vorne gekippt, Augen zu, Mund auf …
„Eingeschlafen. Wie kann man in der Position schlafen?! Na, egal, ich muss mich sputen. Hier, nimm du ihn.“
Er drückte der erstbesten Frau das Baby in den Arm, griff sich den Eimer - eigentlich brauchte er nur das Seil, aber wozu den Knoten lösen? – und ließ ihn wieder abwärts.
Jetzt erst kam Bewegung in die Frauen. Keine dachte mehr an Leid oder Schrecken; sie waren so mit dem Baby und mit dem Stammeln von Dankesworten beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkten, wie das Seil an der Reling scheuerte. Doch just in dem Moment, da Viviane neben dem strahlenden Merdin an Bord kletterte, verschlug es ihnen erneut die Sprache. Mit offenen Mündern starrten sie auf Vivianes klatschnasse Zöpfe, ihre Brüste unter dem völlig durchweichten römischen Busenband, die Muskelstränge am Bauch, die langen Beine, die rot lackierten Fußnägel, Fingernägel …
Viviane war sich ihrer schlecht sitzenden Frisur und der Rinnsale auf ihrer eingecremten Haut wohl bewusst, doch sie hackte mit einer herrischen Geste die Luft in zwei Teile und zischte: „Jetzt ist keine Zeit zum Starren. Wenn ihr euer Los und das eurer Leidensschwestern ändern wollt, dann gebt ab sofort keinen Mucks mehr von euch. Absolut keinen Laut. Und jetzt leise, ab zum Heck und rein ins Zelt.“ Deutlich zeigte Viviane die Richtung an und machte scheuchende Handbewegungen. „Hurtig, hurtig!“
Auch wenn sie schon wieder nichts begriffen, setzten sich die Frauen folgsam in Bewegung und gaben sich redlich Mühe, so schnell wie möglich über das Deck zu schleichen. Sie nahmen sich nicht die Zeit, zurückzublicken.
Zufrieden formte Viviane mit den Fingern einen Trichter und drückte ihre Lippen dagegen.
Als die Frauen einen Raben dreimal krächzen hörten, blieben sie doch stehen und drehten sich um. Sie sahen Männer aus Fässern, Heu- und Strohballen steigen, und endlich verstanden sie. Ihre Blicke trafen sich, beide Seiten reckten die Fäuste und jeder schlich, so schnell er konnte, an seinen Platz.
Wie geisterhafte Schattenkrieger huschten die Männer übers Deck und die Leiter hinab, mit einem letzten Winken schloss Merdin die Luke von unten.
Der Zelteingang wurde zugezogen.
Allein Viviane blieb auf dem Deck zurück und war froh über ihren Posten als Späher. Während sie sich die Zöpfe auswrang, die Haut mit ihrer langen Seidenstola trocken rubbelte und zurück in ihre schöne warme Tunika schlüpfte, beobachtete sie aufmerksam die Gegend flussauf, flussab.
Das gesamte Hafengelände war nun menschenleer, auch die Schiffe rechts von ihr.
Offensichtlich waren alle Arbeiter nach Hause gegangen und die Seefahrer vertrieben sich ihre Zeit irgendwo an Land.
Nur links von ihr, auf dem letzten Schiff, herrschte reges Treiben. Es schien bald auslaufen zu wollen. Männer eilten hierhin und dorthin, schleppten Lasten, riefen sich etwas zu, lachten; der Kapitän bellte Befehle. Doch niemand, kein Einziger von ihnen, nahm sich die Zeit, herüberzublicken.
Viviane konnte das nur recht sein; gleichwohl fand sie es eigenartig, wenn zwei Schiffe so nah hintereinander am Ufer lagen. Andererseits musste man schon direkt hier bei ihr an Bord sein, um die Situation richtig deuten zu können. Doch halt, was hatte Akanthus gesagt? ‚Zufällig steht uns ein großes Handelsschiff zur Verfügung. Es wird euch im Hafen ausreichend Deckung verschaffen.‘ Erleichtert atmete Viviane aus. Das tat gut.
Scheinbar den Sonnenuntergang genießend, lehnte sie an der Reling. Bis auf gedämpftes Geschrei und Gepolter aus dem Bauch ihres Schiffes war nichts zu hören. Die Pferde waren satt und dösten im Stehen vor sich hin. Viviane hatte nichts mehr zu tun, als sich die Zöpfe aufzudröseln und die nun offenen Haare noch ein bisschen besser zu trocknen.
Doch nein, zu früh gefreut. Rechts von ihr blitzte etwas golden auf.
Schnell ließ Viviane ihren Blick über das Schiff zu ihrer rechten Seite gleiten.
Wie alle anderen Handelsschiffe, die hier im Hafen lagen, war es lang und breit und hatte einen plumpen Rumpf. Dennoch wirkte es schnittiger als die anderen. Es dauerte eine Weile, bevor sie erkannte, woran das lag: Die anderen Schiffe, ihres inbegriffen, hatten nur ein großes Segel – dieses Schiff jedoch verfügte über drei, ein großes und zwei kleinere.
Im Moment waren sie komplett gerafft. Vom kleinsten, vorne am Bug, kam das goldene Blinken. Es bewegte sich ruckartig, geradezu nervös, und schien von einer bestimmten Stelle aus gesteuert zu werden. Der Farbe nach zu urteilen, wurde es nicht von der Lichtreflexion auf einer Waffe hervorgerufen.
„Trotzdem, höchst verdächtig“, murmelte Viviane und schirmte ihre Augen mit den Händen ab. „Aber dieses mickrige Segel versperrt mir die Sicht, egal ob gerafft oder nicht.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen.
„Reicht nicht.“
Sie kletterte auf Dina und stellte sich auf deren Rücken.
„Nicht hoch genug“, grummelte Viviane und schaute sich nach Alternativen um.
Arion hob den Kopf, als wollte er mitsuchen. Nein, er hob nicht den Kopf, er winkte damit, und zwar ziemlich ungeduldig. Viviane hätte beinahe laut gelacht. Ganz sachte setzte sie einen Fuß auf seinen Rücken, dann den zweiten …
„Ah, das ist sehr nett, danke dir, mein Großer.“ Viviane krallte ihre Zehen in Arions Fell und schaute zum Nachbarschiff hinüber. Endlich erkannte sie, was da so blinkte und blitzte.
„Ein großer goldener Teller?“
Viviane balancierte auf den Zehenspitzen, was Arion sehr zu gefallen schien, er hielt absolut still.
„Nein, das ist kein goldener Teller. Das ist auch kein goldener Spiegel“, murmelte Viviane und reckte ihren Hals. „Das ist ein Astrolabium.“
Arion gab ein leises Schnauben von sich, Dina stimmte mit ein und Viviane erklärte, ohne den Blick zu senken: „Das ist ein Höhenmesser für Sterne. Sehr praktisch, wenn man auf einem Schiff unterwegs ist. Tagsüber richtet man es auf die Sonne, nachts auf die Sterne. So findet man immer seinen Weg. Hm. Der Mann – ich glaube jedenfalls, dass es ein Mann ist, wenn ich mir die Arme so angucke – weiß aber bestimmt, dass sein Schiff vor Anker liegt und die Sonne im Westen untergeht.“
Viviane gluckste über ihre eigene Intelligenz. „Also dürfte er den Sonnenstand bloß abmessen, um die Zeit zu bestimmen. Hm. Wozu braucht er die genaue Zeit? Doch nur, wenn er mit jemandem verabredet ist. Oder die Besatzung kommt gleich und sie machen sich auch zum Auslaufen fertig.“
Viviane schürzte die Lippen, Arion und Dina schauten sich an, als würden sie ebenfalls überlegen. Unter Deck kreischten auf einen Schlag viele Frauen gleichzeitig los, dazwischen ging ein eindeutig männliches Brüllen in Fiepen über - Viviane verspürte den heftigen Drang, diese Geräusche mit etwas zu überdecken.
Laut summte sie eine Melodie vor sich hin und gab sich Mühe, nur auf diese