Die weise Schlange. Petra Wagner
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Sie schwenkte eine leuchtend blaue Glasschale mit besagten Nüssen vor sich her und legte sich graziös neben Merdin auf die Kline. Doch obwohl er ausreichend Platz machte und Viviane sogar die Schale abnahm, sprang sie sofort wieder auf, um die Falten ihrer Stola zu richten; angeblich waren sie schief.
Merdin ballte seine Finger zur Faust und stopfte sich Nuss um Nuss in den Mund. Wieder war ihm eine Gelegenheit abhandengekommen. Ob an seiner Seite hier oben auf der Terrasse oder bei der Besichtigung der Villa - sie flatterte hierhin, flatterte dahin; nirgends verweilte sie lange genug. Wie sollte er sie da zu fassen kriegen, geschweige denn in Ruhe mit ihr reden können? Noch nie hatte er sie derart unruhig, ja, sprunghaft erlebt, nicht einmal vor ihren Prüfungen zum Drachenschwert. Selbstverständlich war diese Mission hier etwas anderes und darum ahnte er, was sie derart umtrieb: Sie hatte Angst. Sie fürchtete sich vor dem anstehenden Kampf und ihr graute vor dem, was sie sonst noch auf dem Schiff erwartete.
Vielleicht brauchte sie einfach diese Unruhe nach außen hin, um sich nicht dem Aufruhr in ihrem Innern stellen zu müssen. Womöglich war es gar eine Art Transport von innen nach außen, um Platz zu schaffen für die Ruhe, die sie so dringend benötigte. Es musste schlimm sein für Viviane, warten zu müssen. Ein Schiff vor Augen, auf dem junge Frauen eingepfercht waren wie Vieh, und nicht sofort etwas dagegen unternehmen zu können … das war grauenvoll.
„So, mein teuerster Bruder, alle wieder gut in Schwung.“ Viviane feixte, streichelte sanft die Falten ihrer Stola von einer Schulter zur anderen und schnappte ihm eine Nuss vor dem Mund weg. „Wirklich prima, diese Mission. Römische Küche hab ich schon immer mal probieren wollen. Hm, ganz schön scharf.“
Sie stibitzte Merdin noch eine Nuss und tänzelte zur Brüstung zurück, von wo sie ihren Blick die Straße entlangwandern ließ, an Häusern und Feldern vorbei und wieder zurück bis hinunter zum Hafen. Jedes Schiff, das am Flussufer vor Anker lag, gerade davonsegelte oder einlief, war von hier aus bestens zu erkennen. Jeder Bauer, der sein Feld bestellte, war bestens zu erkennen. Jedermann, der in Londinium ein und aus ging, war bestens zu erkennen.
„Ich kann sogar unsere Leute dahinten vor dem billigen Gasthaus sehen. Sie rollen gerade mit ein paar mir Unbekannten Fässer in einen Schuppen. Es ist wirklich faszinierend, zu sehen, wer zu uns gehört. Und von dieser Dachterrasse aus behält man alles im Blick, als stünde man auf einer Warte.“ Vergnügt schnippte Viviane mit den Fingern. „Wir machen es uns auf einem Wachturm gemütlich. Dem besten landauf, landab.“
„Hm“, brummte Merdin und hielt ihr zwei Nüsse hin. „Das hast du gut erkannt.“
Vor fast hundert Jahren war die Villa erbaut worden, aus bestem Tonziegel, drei Etagen hoch und teuer eingerichtet. Im Moment gehörte dieses Prachtstück römischer Baukunst einem reichen Römer und seiner Gattin. Er gab Lektionen in Rhetorik, sie bewirtschaftete eine Garküche – Caupona, wie die Römer sagten – und ein dazugehörendes Gasthaus mit den besten Zimmern weit und breit.
Das war jedenfalls die offizielle Version für alle, die danach fragten. In Wirklichkeit waren die Besitzer nämlich Druiden der Rechtsprechung und bevor sie in diese Villa gekommen waren, hatten sie sich noch nie gesehen. Sie stammte aus dem Noricum und er aus Iberien. In Britannien führten sie ein neues Leben mitten unter Römern; selbstredend war es von Vorteil, als Druide die Sprache der Latiner zu beherrschen.
Leute aus vielen römischen Provinzen gingen in dem Gasthaus ein und aus. Im unteren Bereich aßen sie römische Speisen und tranken die besten Weine. Im mittleren bewohnten sie die Gästezimmer und im oberen lernten sie, wirklich gute Reden zu halten. Ein Teil des Gebäudes war für Gäste nicht zugänglich, dort lebten die Eheleute mit ihren drei Kindern.
Die zwei jüngeren hatten noch keine Ahnung, dass ihre Eltern gar keine Römer waren. Aber dafür wussten sie, genau wie ihr großer Bruder, dass sie sich sehr gern hatten und haufenweise Sesterzen verdienten, denn mittlerweile hatte es sich im ganzen römischen Imperium herumgesprochen, wie gut man hier, in der britannischen Provinz, versorgt wurde. Für reiche Reisende war es ein Muss, wenigstens eine Nacht zu verweilen.
Viviane schmunzelte vor sich hin und strich sich über ihre feine rosa Seidenstola. Natürlich waren unter den vielen Gästen auch immer mal welche, die es besser wussten: In diesem Hafen wechselten nicht nur Handelsgüter den Besitzer, man konnte auch in den Besitz von Informationen gelangen, und zwar ohne Bezahlung. Es war die gemeinsame Aufgabe, für die es sich lohnte.
„Vivian, Achtung, die Luke geht auf! Ich glaub, die Römer kommen an Deck! Ja, unsere Schiffspassagen sind gleich in Sicht!“
Viviane blinzelte heftig. Jetzt war sie tatsächlich in Gedanken versunken und hatte sogar Honignüsse geknabbert, ohne es zu merken, was ihr – bei den Massen an Pfeffer drum herum – eigentlich hätte auffallen müssen. Wenn Merdin nicht ihre Hand getätschelt hätte, wäre ihr die Bewegung auf dem vorletzten Schiff flussabwärts entgangen. Da erschien eindeutig ein Kopf in der Luke, dann schob sich der restliche Körper heraus.
„Donar steh uns bei, es beginnt“, hauchte sie. „Merdin, ich hab Angst. Ganz schreckliche, schreckliche Angst. Diese armen Maiden, in welcher Verfassung werden wir sie vorfinden? Wie zerrüttet werden sie sein, körperlich wie geistig, nach all der Zeit?“ Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und holte zittrig Luft. „Und da ist noch etwas … Ich würde was drum geben, wenn ich nicht töten müsste. Ich hab doch noch nie in echt …“
„Ganz ruhig, Vivian. Denk jetzt nicht daran. Wir wollen die Maiden befreien und das werden wir tun. Deine List wird gelingen. Und falls es Komplikationen gibt … Wir können blitzschnell denken, kämpfen und improvisieren. Vielleicht kommt es nicht mal zum Kampf. Wenn doch, hältst du dich einfach raus. Mit den paar Seemännern werden wir allemal fertig, keine Bange.“
Viviane fühlte seinen starken Händedruck und atmete gleich viel ruhiger.
„Bei allen Göttern, deinen und meinen, was bin ich froh, gerade dich an meiner Seite zu haben, mein teuerster Bruder.“
Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln und schaute ihm tief in die Augen. Am liebsten hätte sie sich darin verloren, in diesem himmlisch strahlenden Blau, doch etwas hinderte sie daran. Sie wusste nicht genau, was es war oder wie sie es benennen sollte … sie zwang sich, wegzusehen.
Seufzend starrte sie das Flussufer entlang zum vorletzten Schiff. An Deck redete gerade ein Seefahrer recht überschwänglich auf die beiden Römer ein, während sich Letztere die Kleider richteten. Besonderen Wert schienen sie auf den Faltenwurf ihrer Togen zu legen, sie zupften und begutachteten, zupften und begutachteten … Vom Ausfertigen irgendwelcher Dokumente konnten doch weder Toga noch Tunika derart verrutschen.
Prompt kroch Viviane ein Schauder über den Rücken und es wurde ihr mächtig flau im Magen. Doch es war nicht Angst, die sie erbleichen ließ, es war auch nicht Mitleid für diese armen Frauen dort auf dem Schiff. Sie wusste nicht einmal genau, ob es überhaupt ein Gefühl war, was sie da wahrnahm. Es fühlte sich eher wie ein Ding an, für das sie noch keinen Namen hatte.
Es wand sich in ihren Eingeweiden, streckte sich und dehnte sich, wälzte sich in ihrem Blut und kreischte: ‚Ich will mehr Blut! Viel mehr Blut! Lass mich raus! Ich will kämpfen! Ich will töten! Ich will siegen!‘ Dabei wollte sie doch gar nicht töten. Selbstverständlich wollte sie siegen und um das zu erreichen, musste sie höchstwahrscheinlich kämpfen. Aber am liebsten hätte sie auf Letzteres verzichtet, und töten … nein, das wollte sie erst recht nicht. Nicht nur aus Gnade für