Die weise Schlange. Petra Wagner
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Genau deshalb hatte sie das Schiff bis jetzt nur einmal, bei ihrer Ankunft, angesehen und dann nicht wieder. Dieses Chaos tief in ihr drinnen war schlichtweg nicht auszuhalten gewesen. Wer wollte schon einen Kampf gegen sich selbst ausstehen, ihr Mitgefühl gegen das Ding ohne Namen? Wer würde diesen Kampf für sich entscheiden? Sie hatte alles betrachtet, bloß nicht dieses vorletzte Schiff. Sie wollte sich nicht vorstellen, was dort gerade mit den gefangenen Frauen passierte.
Wie lange waren sie jetzt auf diesem Schiff? Wie oft hatte dieses Schiff schon irgendwo vor Anker gelegen? Immer mit ähnlicher Fracht? Und wenn ja, was taten die Seefahrer wohl mit so vielen Frauen, bis sie irgendwann im Zielhafen ankamen – weit, weit über dem Meer, wo ihr Handelsgut zum nächsten Sklavenmarkt verfrachtet wurde? Was nützte es den Frauen dort auf diesem vorletzten Schiff, wenn sie, Viviane, die Ärztin und Drachenkriegerin, wie gelähmt war vor lauter Angst vor sich selbst?
„Schau, Vivian, sie laufen die Planke runter, genau wie uns die Wirtin beschrieben hat. Der eine schwankt, als würde er gleich umfallen und ist so dünn wie eine Bohne. Der andere trippelt auf kurzen Beinchen und ist so dick wie ein Kohlkopf.“
„Oh ja, sehr interessant. Bohne hat eine grüne Tunika und Haare so wirr wie Bohnenkraut. Kohlkopf trägt eine zartgrüne Tunika und sein Schädel ist kahl. Die Namen passen perfekt.“ Aus schmalen Augen beobachtete Viviane die Römer, die am Flussufer verharrten und majestätisch zu dem Seefahrer hinaufwinkten. Am liebsten hätte sie mit Pfeil und Bogen auf die drei angelegt. Vergiftete Blasrohrpfeile wären auch gut geflogen oder ein paar Schleudersteine. Oder sie hätte vom Dach springen und ihnen entgegenstürmen können mit dem Schwert in der Hand, mit zwei Schwertern, mit der Axt, mit bloßen Händen … alles wäre richtig gewesen, alles zusammen.
Die Vorstellung war allzu verlockend, und sie war froh, wieder Merdins starken Händedruck zu spüren. Er hegte ähnliche Gedanken, das wusste sie, auch wenn er nichts sagte, und plötzlich war es ihr wichtig zu trällern: „Komm, mein teuerster Bruder, runter zur Caupona, wir wollen unsere Schiffspassagen in Empfang nehmen!“ Schon eilte sie Merdin voraus über die Dachterrasse und die Treppe hinunter. Sie wurde immer schneller, bis sie durch eine schmale Tür in das hintere Ende des Speiseraums preschte. Nun rannte sie fast vorbei an Tischen und Korbstühlen und der ewig langen Theke, bis diese einen Knick nach rechts machte und auslief. Dort, am Eingang, an der Schmalseite der Caupona, stand die Wirtin mit ihrem ältesten Sohn hinter der Theke. Sie stellten gerade ein neues Fass Wein auf, hielten aber sofort inne, als Viviane und Merdin um die Ecke bogen.
Beim Anblick ihrer grimmigen Mienen wusste die Wirtin sofort Bescheid. Sie schickte ihren Sohn fort, um den anderen Drachenkriegern Meldung zu machen. Dann schlug sie, wie mit Viviane verabredet, ein paar Eier auf. Rasch trennte sie Eigelb von Eiweiß, gab eine Prise Salz in Letzteres und langte hinter sich auf ein Regal, wo schon ein Zwiesel bereitlag. Dieser war letzten Winter aus der Spitze eines Tannenbaums gefertigt worden, mit eingekürzten Ästen und glatt geschnitzt. Wenn der Stiel geschickt zwischen den Handflächen gerieben wurde, verquirlten die kleinen Astenden alles Mögliche an Essbarem und Trinkbarem, ja, Soßen rührten sich fast von alleine sämig.
Bei der grimmigen Miene, mit der die Wirtin den Zwiesel zwischen den Handflächen rubbelte, hätte man allerdings etwas anderes im Krug vermutet als Eiweiß. Nun gut, es war nicht einfach nur Eiweiß. Es war eine Art Geheimwaffe, wenn sie auch weder erschrecken noch wehtun würde. Viviane wollte es anfangs gar nicht glauben, aber ihre Gastleute hatten ihr versichert: Mit Eischnee brächte man Eisberge zum Schmelzen, römische seien besonders empfänglich. Dann hatte die Wirtin eine Kostprobe zum Besten gegeben und gezeigt, was es noch zu beachten gab. Viviane hatte nur staunen können – zum einen über die Fingerfertigkeit und zum anderen über die Raffinesse dieser Druidin, die vom Alter her gut ihre Mutter hätte sein können.
Sie staunte auch jetzt darüber, wie das Eiweiß unter diesen fähigen Händen immer höher schäumte. Es war ein faszinierender Vorgang, doch sie wandte den Blick ab, ging zu Merdin, der unschlüssig an einem Tisch nahe dem Eingang stand, und schubste ihn auf einen dazugehörenden Korbstuhl. Sie brauchte nur den Finger zu heben, schon gähnte er und fläzte sich in eine gelangweilte Schräglage – als Erbe eines adligen römischen Ritters war er für langes Sitzen ohne Pferd unter sich nicht geschaffen.
Viviane war sehr zufrieden mit seiner Pose. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Merdin, reckte den Hals, um zu prüfen, ob die Straße durch die offene Tür gut im Blick lag, und beschäftigte sich nun mit sich selbst.
Sie hatte jede Menge zu tun. Sie musste graziös dasitzen; sie musste das mordlustige, nach Blut kreischende Biest in ihrem Innern in ein wohlig schnurrendes Schmusekätzchen verwandeln; und sie musste sich auf zwei Frauenschänder freuen.
Wider Erwarten schaffte sie all das recht schnell, obwohl die freudige Erwartung mit der Zeit verging und einem leicht gereizten Mienenspiel Platz machte. Offenbar waren die Frauenschänder in einem früheren Leben als Schnecken unterwegs gewesen; es dauerte ewig, bis sie in Sicht kamen.
Der eine mit schlaksigen, der andere mit gewichtigen Schritten, schlenderten sie die Hafenstraße entlang direkt auf die Caupona zu. Kaum zur Tür herein riefen sie nach Wein aus Mediolanum – den besten, unverdünnt, einen ganzen Krug voll – und schlenderten zu dem Tisch hinüber, an dem Viviane mit Merdin saß. Dabei hielten sie die Augen stets auf Viviane gerichtet, und so war sie es auch, die beide ansprach.
„Bei Neptunus und Mercurius, ich hoffe, das Schiff ist nun endlich zum Auslaufen bereit?!“ Sie setzte eine Miene auf, als würde sie schon ewig auf dieses Ereignis warten. „Konnte die Freigabe erteilt werden? Darf es fahren?“ Graziös schlug sie die Beine übereinander und wippte höchst pikiert mit dem rechten Fuß.
Beim Anblick ihrer rot lackierten Fußnägel vergaßen die Römer, dass die fremde Römerin erst gestern angekommen war. Sie vergaßen zu fragen, von wo genau sie herkam, wie ihre Eltern hießen und wie diese ihren gehobenen Lebensstil finanzierten. Ja, es schien sogar, als könnten die Römer rein gar nichts mehr denken, nachdem Viviane einmal mit ihren Fingern geschnippt hatte. Sofort zuckten ihre Köpfe hoch und ihre Blicke saugten sich an Vivianes Schmollmund fest, bis sie unvermittelt ihr Kinn reckte. Prompt rutschten die Blicke ihren schlanken Hals hinab und blieben an ihrem Busen hängen.
Schwer seufzend warf Viviane ihr rechtes Bein in die Höhe und das linke hinterher, sodass ihre Seidenkleider luftig flatterten, ehe sie wieder alles an sich raffte. Eine Handvoll Seide, noch eine Handvoll … ihr rechtes Bein senkte sich graziös und das linke schmiegte sich mit sanftem Druck darüber. Ein dumpfer Schlag ließ die Römer zusammenzucken. Wer störte? Gerade jetzt, wo die feine Seide festklemmte, rosa zwischen zarten Schenkeln.
Erst nach einem strafenden Blick zur Seite stellten sie fest, dass niemand sie ablenken wollte: Die Wirtin hatte bloß den bestellten Krug Wein und zwei Becher abgestellt, und eine Schale mit schaumig geschlagenem Eiweiß.
Letztere war für Viviane und sie stürzte sich darauf, als hätte sie seit drei Tagen nichts mehr gegessen; der Faltenwurf ihrer Stola geriet in Schwung und ihr Busen kam hervorragend zur Geltung.
„Oh, ich liebe diese Delikatesse“, jauchzte sie und vergaß, sich ordentlich hinzusetzen. Halb über den Tisch gebeugt tauchte sie einen winzigen Silberlöffel in den weißen Schaum, hob ihn an und ließ sich nun zurücksinken. „Ja, dieser Eischnee ist besonders gelungen … wie eine luftige Wolke!“ Sie betrachtete den extrem hohen Schaumberg auf ihrem Löffel und saugte ganz vorsichtig daran. „Mmh, steif und … ah, so