Am Ende des Schattens. Andreas Höll
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Er griff in seine Manteltasche, holte ein paar Münzen heraus und bezahlte. Er achtete stets darauf, Kleingeld für den Kriegsinvaliden übrig zu haben, der ein paar Meter weiter auf dem Boden saß und mit dem Rücken am Sockel eines Hauses lehnte. Seinen Beinstumpf hatte er auf die Holzleisten seiner Krücke gelegt, daneben waren auf einer Decke Heftpflaster, Bindfäden, Reißverschlüsse und Sicherheitsnadeln ausgebreitet. Aus Verlegenheit kaufte Dolphin eine weitere Packung Sicherheitsnadeln, die sich nutzlos mit den anderen in der Nachttischschublade stapeln würde.
2
Am Nachmittag fuhr er ins Büro und versuchte Lord Bakerfield zu erreichen. Die Sekretärin in London richtete ihm in ziemlich hochnäsigem Ton aus, der Verleger sei nicht zu sprechen. Ob es Sinn habe, es heute nochmals zu probieren, wollte Dolphin wissen. Sie fürchte nein, sagte sie in einer Weise, in der wenig Furcht, aber viel Schadenfreude durchklang. Wusste sie von jenem katastrophalen Telefonat, das mit einem Ultimatum geendet hatte?
Er ließ sich eine Kanne Kaffee bringen und schaute auf die Uhr an der Wand gegenüber. In London war es jetzt 16.23 Uhr. Keinesfalls wollte er Parlamentskorrespondent in Westminster werden. Er wollte nicht analysieren und kommentieren, sondern aufdecken und verändern. In England war alles viel zu festgefahren, um als Journalist Karriere machen zu können. Die Langeweile verregneter Nachmittage im Commonwealth Club, die verstaubten Rituale im Oberhaus.
Dolphin verstand den Lord nicht. Nie zuvor in der Geschichte des Standard hatte die Berichterstattung aus der Reichshauptstadt einen so breiten Raum eingenommen. Darüber hinaus war es allein dem Spürsinn des gebürtigen Berliners und seines mühsam aufgebauten Netzes aus Informanten zu verdanken, dass er die exklusiven Reportagen, oftmals lange vor der Konkurrenz, platzieren konnte. Und war es nicht die Londoner Zentralredaktion, die immer wieder anrief, wenn sonst nichts los war und eine schlagzeilenträchtige Geschichte gebraucht wurde und der Chef vom Dienst fragte, ob er eine Story liefern könne? Wie sollte ein Doktor aus Oxford sein Nachfolger werden, der weder die Sprache richtig beherrschte noch die hiesigen Verhältnisse kannte?
Dolphin trank einen Schluck Kaffee. Erst neulich hatte er wieder einen scoop gelandet, als er an vorderster Front über die Gefechte zwischen SA und Kommunisten berichtete. Mit Fotoapparat und Notizblock bewaffnet, vertauschte er Tweedanzug und maßgefertigte Full Brogues mit seiner Kampfmontur aus Lederjoppe, Kniebundhosen und Schnürstiefeln und raste von einem Unruheherd zum anderen, um zwischen den Kämpfen seine Artikel durchzugeben, und nur mit sehr viel Glück war er damals einer Schießerei entkommen.
Er rief Ella an. Als sie sich meldete, musste er lächeln. Aus ihrer Stimme klang unverkennbar der Stolz der Fremdsprachensekretärin, die für eine große Aktiengesellschaft arbeitet. Doch sogleich wurde ihr geschäftlicher Ton weicher, als er vorschlug, sich später im Ambassadeur zu treffen.
Er nahm das Kinoprogramm zur Hand und blätterte darin. Im UFA-Theater zeigten sie wieder alte Stummfilme. Der zweite Teil des Indischen Grabmals war für die Spätvorstellung angekündigt. Mit Ella hatte er kürzlich Folge eins gesehen, die ihr offenbar auch wegen des
Dieners des Maharadschas gefallen hatte, ein düsterer, groß gewachsener Schwarzer, der aus den Kolonien nach Berlin gekommen war. Auch im letzten Teil spielte er mit, und das könnte ein Argument sein, um sie nach dem Abendessen ins Kino zu locken.
Mit einem Mal fühlte er sich müde und leer. Draußen regnete es. Er griff zum Regenschirm und ging zum Savignyplatz, wo es ihm nur mit Mühe gelang, ein Taxi anzuhalten. Er stieg ein und nahm den feuchten Hut vom Kopf. Dann drängte er den Chauffeur zur Eile, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aber auch, um die eigene Antriebslosigkeit zu verscheuchen. Der Fahrer schwieg, wischte mit einem Tuch über die beschlagene Frontscheibe und zeigte auf die Wagen vor ihm. Heck an Heck standen sie auf dem glitzernden Asphalt, klebrig wie die Schnecken.
In der Friedrichstraße schließlich ein Stau vor dem Film-theater. Säulen aus Glühbirnen wuchsen an dem Palast empor, gekrönt von der funkelnden Raute der UFA. Der Himmel darüber war von Wolken gefleckt. Streifen und Zacken unterschiedlicher Helligkeiten, Camouflagemuster, als wolle die Nacht sich tarnen.
Alles in dieser Stadt war Inszenierung: das Lichtspiel am Himmel, die Bewegungen der Kinogänger, die, einer geheimen Dramaturgie folgend, ihre Regenschirme ausschüttelten, bevor sie das Kino betraten. Selbst die Wassertropfen schienen aus Glas, das lautlos auf dem Trottoir zersprang.
Er ging hinein und kaufte zwei Karten für die Spätvorstellung, was überhaupt nicht notwendig sei, wie die grauhaarige Billettverkäuferin versicherte. Der Film laufe schon so lange, das sei nur noch etwas für Schlaflose und Verliebte. Nach dem Essen schmiegte Ella sich an ihn, als sie im Taxi in die Friedrichstraße fuhren. Kerzen, Burgunderwein, das Parfüm, das er im Kaufhaus Wertheim extra in kornblumenblaues Papier hatte schlagen lassen, das alles schien jenes Fluidum zu erzeugen, das sie von einem Abend zu zweit ersehnte. Sie hatte nicht einmal den Umstand zur Sprache gebracht, dass sie sich bald ein Jahr kannten und noch immer nicht verlobt waren.
Im Kino saß nur eine Handvoll Zuschauer. Sie lehnte sich in ihrer üppigen Blondheit zu ihm herüber und verstand es, ihr Madonnengesicht so ins Bild zu rücken, dass Dolphin das Geschehen auf der Leinwand nur noch aus den Augenwinkeln verfolgen konnte. Er vertiefte sich in das Dreieck aus Ellas Engelshaar, ihren blauen Augen und dem vielleicht etwas zu kleinen Mund. Wenn sie zuschaute und schwieg, konnte er sich darin versenken. Sie schien es zu mögen, wenn er die Linien ihres Gesichts studierte. Eigentlich konnte man gar nicht von Geometrie sprechen, es hatte, zu seinem leisen Bedauern, eher etwas Daunenweiches, das wenig Widerstände bot.
Plötzlich richtete sie sich auf. Dolphin sah, wie sich der Diener des Maharadschas seinem Herrn näherte. Der Mann mit dem mächtigen Oberkörper beugte sich zu seinem Gebieter hinab. Er flüsterte in dessen Ohr, finster dreinblickend, verstärkt noch durch den Kontrast zwischen tiefschwarzem Gesicht und blendend weißem Turban. Etwas Undurchdringliches ging von ihm aus, ein Gesicht wie eine Maske, mit polierten Wangenknochen, um die sich sichelförmig Lichtpunkte verteilten, Reflexe von Härte, von Stolz, der sich nicht brechen ließ, auch wenn er nun den indischen Domestiken gab.
Es entging Dolphin nicht, wie sich ihre Pupillen weiteten, als sie den Schauspieler betrachtete. Er tippte sie an. »Wer ist das?«
»Louis Brody«, wisperte sie ihm ins Ohr, »das müsstest du eigentlich wissen.«
Dolphin lachte. »Mich interessiert eher die indische Tänzerin. Gefällt er dir?« Über Conrad Veidt, den Hauptdarsteller mit den ebenmäßigen Zügen, die in einem edlen Bronzeton geschminkt waren, hatte sie noch nie ein Wort verloren.
»Aber nein«, protestierte sie und boxte gegen seinen Arm. Ihr gefielen doch keine Afrikaner! Aber gut spielen könne er. So groß, so schaurig, er mache einfach Effekt.
Es war sehr spät, als sie in die Knesebeckstraße kamen. Ella bestand darauf, noch ein Bad zu nehmen. Und dann weckte sie ihn, mit einer Leidenschaft, die er so nicht von ihr kannte. Wie immer blieb sie stumm, aber ihr Keuchen verriet eine Erregung, die Dolphin, obgleich er über einen Meter achtzig maß und die Schultern eines Sportruderers besaß, nicht vollständig auf sich beziehen konnte. Das Feuer flammte nur kurz auf, dann lag sie erschöpft neben ihm und schlief sofort ein. Er roch das Parfüm, das er ihr geschenkt hatte. Es hieß Tabu. Ein Duft mit einer orientalischen Note, hatte die Verkäuferin im Wertheim gesagt und ihm den Flakon überreicht, verpackt in Ellas Lieblingsfarbe. Er schien so schnell zu verfliegen wie ihr nächtlicher