Am Ende des Schattens. Andreas Höll
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Er überlegte, Ella anzurufen. Dann fiel sein Blick auf die Einladungskarten, die er Woche für Woche um den Fuß der Schreibtischlampe gruppierte. Botschaften luden ein, Indus-trieverbände, Parteien, Sportveranstalter oder Börsenspekulanten. Dolphin sortierte sie nach Wochentagen, und siehe da, heute hatte der Finanzmagnat Hugo von Ernst geladen.
Einen Moment lang dachte er daran, einfach bei Ella vorbeizufahren und sie zu überraschen, doch sie würde sowieso ablehnen. Festivitäten dieser Extravaganz, das wusste er, kamen auf keinen Fall infrage. Egal, was er tun würde, sie wäre verstimmt. Schließlich verschwand er im Badezimmer, wo neben der Dusche auch ein Kleiderschrank Platz fand. Nachdem er die Haare gekämmt, mit einem Hauch Pomade geglättet und aus Zeitgründen auf eine Rasur verzichtet hatte, zog er ein frisches Hemd an, band sich eine Fliege um, und nach und nach komplettierte sich das Bild mit Frack, Zylinder und Abendcape. Er verscheuchte die Gedanken an Ella und schwang den Gehstock mit dem Derby-griff. Zum Teufel mit Lord Bakerfield! Noch war er in Berlin. Dolphin tänzelte die Stufen hinab, zum berühmtesten aller Gastgeber in der Tiergartenstraße.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war es halb elf. Er hatte den Wecker nicht gehört. War das alles tatsächlich passiert? Er suchte nach verdächtigen Spuren. Keine Scherben, keine fremden Gegenstände. Dann sah er das Taschentuch voller Blut auf dem Nachttisch liegen. Und offene Sicherheitsnadeln, die so verstreut waren, als kämpften sie mit erhobener Klinge.
Nach einer eiskalten Dusche und einem viel zu heißen Schluck Kaffee, den er fluchend in das Spülbecken spuckte, knallte er die Wohnungstür zu.
In der Knesebeckstraße suchte er eine Weile nach seinem Cabriolet. Womöglich hatte er es eine Straße weiter geparkt, und tatsächlich, es stand vor dem Milchladen. Er ging hinein und bestellte ein Glas.
So langsam beruhigte er sich. Let the past be the past, hörte er seinen verstorbenen Vater sagen, wie damals, als sie nach England gekommen waren.
Dolphin zwängte sich in seinen BMW. Als er auf die Potsdamer Straße fuhr, waren die Trottoirs voller Fußgänger, auf der Straße drängelten sich Radfahrer zwischen Lastwagen und Automobilen. Er verfluchte den Verkehr. Jetzt kam er nicht einmal mehr schrittweise voran.
Sein Kopf schmerzte. Er öffnete das Handschuhfach, fand unter den Wagenpapieren eine an den Rändern gelblich verfärbte Benzedrintablette, würgte sie hinunter, öffnete das Fenster und spürte die kalte Luft in seinem Gesicht.
Woran er sich erinnern konnte:
Das Strahlen des Gastgebers, das selbst dann nicht erlosch, als er Dolphin dem Ex-Kronprinzen vorgestellt und seine Exzellenz erwidert hatte: »Verzeihung, muss ich ihn kennen?«
Das Bassin in der Empfangshalle, eigens für den Abend aufgebaut, samt den darin schwimmenden Fässchen voll Kaviar, aus denen sich die Badenden mit den Händen bedienen konnten
Das Monokel des Generalobersts, das wie in einer Schmierenkomödie herausfiel, als jemand ihn versehentlich anstieß
Die Silbertabletts voller Champagner und Liköre, die sich immer schneller um ihn drehten, als stünde er im Zentrum eines Karussells
Ein Hauch von Knoblauchgeruch, als Harry Graf Kessler ihm ein so good to see you zuwarf und dabei dem Bildhauer Mail-lol erklärte, warum Englisch die zweitschönste Sprache Europas sei und die Froschschenkel im Borchardt ein Graus
Der Bechstein-Flügel, der einsam aussah, obwohl er gespielt wurde
Ein schlaksiges Mädchen im Badeanzug, gerahmt in einem Kristallspiegel, bis es aus dem Bild kippte und verschwunden war
Der Klang von Eis, das in ein Whiskyglas gefüllt wurde
Mehr Schollen aus Eis, nun an Caspar David Friedrich erinnernd
Das Mädchen im Badeanzug, das sich als junge Frau entpuppt, mit hochstehenden Beckenknochen und komplizierten Bewegungen, als gehe sie bergauf, bis sie Anlauf nimmt und springt
Der gelbe Urinstrahl, versickernd in den Eiswürfeln des Pissoirs
Die Schwimmerin plötzlich neben ihm an der Bar, mit dunklem nassem Haar und einem Lächeln, bei dem sie ein Stück Zahnfleisch zeigt
Warum sie einen Hosenanzug anhat und eine Leica in der Hand hält, weiß er nicht, dafür sprechen sie eine Ewigkeit über Kleinbildkameras, Belichtungszeiten und, ja, Vogelperspektiven
Ihre Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, das Zahnfleisch: Es kommt ihm vor, als zeige sie Wunden, die sie nicht hat
Warum überall so viel Eis? In den Gläsern, im Pissoir, im November?
Sie sprechen und trinken, als seien sie vor dem Verdursten
Irgendwann werden sie von jemanden fotografiert
Die kontrollierenden Blicke ihrer älteren Geliebten, so streng wie ihr Jungenscheitel
Leere Gläser voller Gin
Fast fällt sie herunter, als sie auf den Barhocker steigt, um ihn aus der Vogelperspektive zu fotografieren
Wieder die eifersüchtige Geliebte, ihr linkisches Zerren an der Leica, erfolgreich letztlich, ihr Abgang unter schweizerdeutschen Flüchen
Später Gelächter: Was hat Ablichten mit Abblitzen zu tun?
Ja, bei den Hottentotten wünscht er sich von dem Pianisten, doch der tut so, als ob er noch nie davon gehört habe und klappt den Klavierdeckel herunter
Wie lange er schon im Stau stand, konnte er nicht sagen. Erst, als ein Lastkraftwagen hinter ihm hupte, legte er den Gang ein und fuhr an. Er fühlte sich frischer, vielleicht war es die kalte Luft, die hereinströmte, vielleicht tat die Tablette ihre Wirkung. Er hatte sie von Dr. Benjamin, der ihn schon seit Kindheitstagen behandelte, gegen einen hartnäckigen Schnupfen verschrieben bekommen, und das Mittel hatte die wohltuende Nebenwirkung, dass man hellwach wurde. In letzter Zeit hatte er fast täglich eine Benzedrin genommen, bis ihn das Gefühl beschlich, damit aufhören zu müssen.
Als er endlich im Büro ankam, versuchte er Ella zu erreichen. Sie habe sich krankgemeldet, war die Antwort der Kollegin. Er probierte es zu Hause. Sie nahm nicht ab. Vielleicht schlief sie. Wahrscheinlicher schien ihm, dass sie gekränkt war, weil er sich gestern Abend nicht mehr gemeldet hatte. Ehe man es sich versah, war sie beleidigt. Und vermutlich wusste sie, dass er ohne sie ausgegangen war.
Er spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte, und schleppte sich vom Schreibtisch zum Diwan in der Ecke gegenüber, wo er in letzter Zeit immer häufiger übernachtete. Seine Fingerspitzen strichen über den Kelim, den er darübergeworfen hatte, und er versank in einen traumlosen Schlaf.
Er schrak auf, als der Fernsprecher klingelte. Wie lange war er eingenickt? Als er sich mühsam aufrichtete und nach dem Hörer griff, war