Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll

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ein Stichwortprotokoll anzufertigen. Es galt festzuhalten, was Fischer preisgegeben hatte. Lord Bakerfield, so viel war sicher, würde auf dem Artikel bestehen, egal wie mühsam die Recherche auch sein mochte.

      Nach unruhigen Träumen erwachte Dolphin am frühen Sonntagmorgen und stand auf, um sein Frühstück zuzubereiten. Als er sein Ei löffelte, befleckten Spritzer flüssigen Dotters seinen Hausmantel. Er fluchte und versuchte, sie abzuwischen, ohne rechten Erfolg.

      Der Stoff mit dem Paisleymuster hatte ihm sofort gefallen, als er das Kleidungsstück in der Savile Row entdeckt hatte, und seitdem war es wie zu einer zweiten Haut geworden, die er sich an den Wochenenden überstreifte. Es war Teil seines Frühstücksrituals, wie das Zubereiten eines speziellen Darjeelingtees, den seine Mutter aus England schickte. Doch viel zu selten gelang es ihm in letzter Zeit, sich zu entspannen. Selbst am Sonntag arbeitete er wie besessen und suchte in Journalen und Beilagen nach Anregungen, die er womöglich für die Leser des Sunday Standard aufbereiten konnte. Lord Bakerfield, so hatte es ihm kürzlich erst der Chef vom Dienst gesteckt, vermisste neuerdings Themen der kontinentalen Lebensart im Blatt. Wer weiß, welcher Berater ihm das eingeflüstert hatte. Aber warum meldete er sich nicht selbst? Es gehörte zu seinem schwer durchschaubaren Führungsstil, dass er mal großzügig Lob verteilte und teure Geschenke machte, dann wieder nicht zu sprechen war, wenn man ihn dringend zu erreichen versuchte, bis er plötzlich selbst zum Hörer griff, um einen Auftrag zu erteilen oder gar die baldige Abkommandierung zu verkünden. Oder man erhielt gelegentlich vom Chef von Dienst einen diskreten Wink, wie der Herausgeber sich offenbar die weitere Entwicklung seines Blatts vorstellte. Man konnte nie sicher sein, was er als Nächstes tat und dachte, und diese Unberechenbarkeit speiste die Aura seiner Macht.

      Dolphin trank einen Schluck Tee und griff in den Zeitungsstapel, der vor ihm auf dem Tisch lag. Eine Frau in Badetrikot zierte das Titelbild von Das Leben. Ella blätterte gerne in der Illustrierten. Mode, Kosmetik und Filmstars interessierten sie. Und Skifahren in den Alpen. Vor ein paar Tagen war sie auf Einladung einer Münchner Freundin nach Garmisch aufgebrochen, ohne auch nur einmal anzurufen, bis zu ihrer Rückkehr gestern Abend. In dürren Worten teilte sie ihm mit, sie wolle ihn am Nachmittag sehen. Fast war er erleichtert. Es musste eine Entscheidung geben.

      Er zog eine Beilage des Berliner Tageblatts heraus. Eine Überschrift erregte seine Aufmerksamkeit. Die chemisch gefärbte Frau. Darunter der Name der Verfasserin: Claire Goll. Kürzlich hatte er sie im Romanischen Café gesehen, zusammen mit ihrem Mann, natürlich im Bassin für Schwimmer. Dolphin strich über das Papier. Es hatte eine bessere Qualität als das gewöhnlicher Tageszeitungen. Unverrückbar waren die Blockbuchstaben. Er roch daran. Der Duft von Petroleum war nur noch zu erahnen.

      Mit einem Mal stand wieder das Bild des Invaliden vor ihm, wie er, in Sichtweite des Kiosks, auf dem Boden lag. Einmal, als er ihm eine Münze in die Hand drückte, hatte Dolphin sich gezwungen, ihn anzuschauen. Er sah in ein Gesicht, das in unzähligen Operationen zusammengeflickt sein musste, zusammengehalten, wie ihm ein Professor aus der Charité einmal erklärt hatte, von Aluminiumgerippen und Prothesen aus Gelatine. Sein Träger schien sich mit trotzigem Aberwitz gegen die Auflösung der Welt zu wappnen. Den Blick starr nach vorne gerichtet, lehnte er an der Wand. Und alles, was er auf der Filzdecke feilbot, ob Bindfäden, Heftpflaster oder Reißverschlüsse, war dazu da, die Dinge zusammenzuhalten. Doch keine Sicherheitsnadel hatte die Schwimmerin festhalten können. Selbst Hugo von Lustig war ratlos über ihren Verbleib. Womöglich, so spekulierte er, sei sie zu ihrer Geliebten in die Schweiz gefahren.

      Er zündete sich eine Zigarette an und griff zu Golls Artikel. Sie hatte Strände an der Côte d’ Azur besucht und beschrieb die neue Leidenschaft der Damenwelt für schwarzbraunen Teint. Hier zeige sich der Sieg der Neger über die Weißen.

      Dolphin runzelte die Stirn. Da war er wieder, dieser hochgezüchtete Feuilleton-Stil, der im Bassin für Schwimmer gepflegt wurde. Und in gewohnt ironischem Ton ging es weiter, als Goll über chemische Färbereien für Menschenhaut in Paris schrieb, die weiße Damen in ihr Idol Josephine Baker verwandeln sollten.

       Das Gewebe, das uns umhüllt, wird chemisch mit einem wasserdichten Braun durchtränkt. Und man behauptet, dass diese Tinkturen gewisser Schönheitsinstitute ebenso haltbar seien wie deutsche Anilinfarben. Die neue Modefarbe ist garantiert waschecht. Fett fleckt nicht darauf ab, geküsste Stellen werden nicht blasser, sogar Rotwein kann von dem braunen Crêpe de Chine spurlos entfernt werden, ohne Zitrone oder Kleesalz, also ohne Gefahr, Löcher zu hinterlassen.

      Wider Erwarten amüsierte es ihn. Die Techniken der Schönheit im Chemiezeitalter. Er zückte sein Notizbuch und füllte etliche Seiten, ohne den Stift abzusetzen.

      Zur Belohnung öffnete er eine Flasche Champagner und las in seinen Notizen. So könnte es klingen, sein Berlin-Buch. Rasant, wie Fitzgeralds jazz age. Genießerisch kritzelte er in seinen Anmerkungen herum und leerte Glas um Glas, bis nervöse Schöpferlaune in Müdigkeit umschlug und er auf sein Sofa zusteuerte und sich zu einem Mittagsschläfchen niederlegte.

      Es passte nicht zu Ella, dass sie darauf bestanden hatte, Dolphin im Sportpalast zu treffen, ebenso wenig, seinen Einwand, dort sei es viel zu laut, einfach in den Wind zu schlagen. Außerdem kam Ella, die Pünktliche, mit mehr als einer Viertelstunde Verspätung auf die Tribüne. Sie hielt eine Papiertüte wie ein Schutzschild vor der Brust.

      Das Radrennen war in vollem Gange, seine Begrüßung ging im Getöse unter. Die Massen feuerten einen Spanier an, der um den Ring raste, mit der Zwangsläufigkeit einer Maschine schwangen seine Oberschenkel auf und nieder.

      Ella sah gut aus in ihrem kornblumenblauen Mantel, der das volle blonde Haar zur Geltung brachte, doch sie wehrte ab, als er ihr beim Ablegen behilflich sein wollte. Ein Gürtel umschloss ihre Taille. Dolphin bot ihr, da er nichts anderes hatte, einen Schluck Berliner Weisse an, worauf sie angewidert den Kopf schüttelte.

      Er machte ihr ein Zeichen, dass er gleich zurück sei, und ging in Richtung des Getränkeausschanks. Als er zurückkam, war sie verschwunden. Auf seinem Sperrsitz lag eine Tüte vom Kaufhaus Wertheim. Er fand ein Kuvert und eine Schachtel darin. Im Briefumschlag kam ihm eine abgerissene Karte des UFA-Theaters in der Friedrichstraße entgegen. Das indische Grabmal. Er stieß auf weitere Kinobilletts der letzten Monate. Dann öffnete er den Karton. Darin stak eine fast volle Flasche Tabu.

      Er schaute in das Flutlicht, das hinter einem Schleier aus Zigarettenrauch verschwand. Wie aus dem Nichts kam der Spanier angeschossen und wurde durch die Steilwandkurve katapultiert. Dann tauchte er wieder auf, in halsbrecherischer Schräglage, auf spiegelnder Bahn. Auch wenn es eine Ellipse war, man bewegte sich bloß im Kreis.

      Als er kurz darauf auf die Straße trat, begann es zu schneien. Langsam segelten Flocken aus der Unendlichkeit der Wolkendecke herab. Gebannt schaute er nach oben. Er konnte den Blick nicht abwenden. Eine hypnotische Bewegung, von ganz weit oben hinab ins Bodenlose, wo sich das Bewusstsein in einem weißen Flimmern auflöst.

      Er gab sich einen Ruck, trocknete mit einem Taschentuch die tränenden Augen und ging zum Auto. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den Motor zu starten, und vorsichtig fuhr er los, als spürte er noch die Langsamkeit der Flocken.

      Am nächsten Morgen wurde er von einem Anruf des Kaiser-Wilhelm-Instituts überrascht. Professor Fischer war persönlich am Apparat und unterbreitete ihm das Angebot, seinen besten Doktoranden zu treffen. Leider sei er selbst verhindert, es würde ihm jedoch Vergnügen bereiten, wenn sein Promovend dem Korrespondenten des Standard die in der Fachwelt hoch gerühmte anatomische Sammlung zeige, zu der auch er, Fischer, sein Scherflein beigetragen habe, eine Sammlung mit teils aufsehenerregenden Präparaten, die

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