Am Ende des Schattens. Andreas Höll
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Читать онлайн книгу Am Ende des Schattens - Andreas Höll страница 6
Irgendwie mussten sie mit einem Taxi in die Knesebeckstraße gekommen sein. Was er mit Bestimmtheit wusste, war, dass sie sich nicht hatte ausziehen lassen.
Sie hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt und selbst die Führung übernommen. Dolphin lag, nackt bis aufs Unterhemd, im Bett, während sie in die Küche ging, um nach etwas Trinkbarem zu suchen. Er war zu betrunken, um ihr zu folgen. Ihm war rätselhaft, woher sie diese Energie nahm. Die Energie einer, wie er hoffte, mindestens Einundzwanzigjährigen. Sie reichte ihm die Whiskyflasche und musterte ihn.
Sidonie klang viel zu onduliert für das kurze Haar und den drahtigen Körper, sie hatte nichts Welliges und Vielsilbiges. Etwas Entschiedenes ging von ihr aus. Selbst im größten Rausch schien sie in der Lage zu sein, ihr Gegenüber, ihre Nacktheit, das, was sie preisgeben wollte und was nicht, zu kontrollieren.
Irgendwann versuchte Dolphin, aus einem unbekannten Gefühl der Demütigung heraus, sie zu bezwingen. Er hielt sie fest. Seine Zunge wanderte über immer nasseres Fleisch. Er fühlte ihren Widerstand schwinden, bis ihr schmaler Körper vor und zurück schnellte, kämpfte mit ihr, sie hatte Bauchmuskeln aus Stahl, presste ihre Arme nach hinten, hatte sie so weit und wollte endlich in sie eindringen, als sie ihn plötzlich, mit Kräften, die unerklärlich schienen, von sich stieß. Er spürte einen grellen Schmerz, irgendetwas Feuchtes mitten im Gesicht. Seine Nase blutete. Sie war erschrocken und schaute sich hilflos um. Er öffnete die Nachttischschublade und griff nach einem Taschentuch.
Dann tranken sie abwechselnd aus der Flasche, bis sie ihm das Taschentuch wegnahm und das getrocknete Blut aus den Nasenlöchern lecken wollte. Es war grotesk und sehr aufregend.
Er wusste nicht mehr, wann es war, aber plötzlich wurde ihr kalkweißer Oberkörper von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie zeigte auf die Packungen, die aus der Schublade quollen.
Sie wurde still und schaute ihm prüfend ins Gesicht. »So einer bist du also«, sagte sie lüstern. Und dann begann sie, sich langsam zu schmücken. Aufreizend langsam öffnete sie eine Sicherheitsnadel und stach sie in ihr Ohrläppchen. Es folgte der Nasenflügel und in absteigender Folge die Brustwarze links, rechts. Dann spreizte sie die Beine, wovon Dolphin sie abhalten wollte, doch sie umklammerte sein Hand-gelenk, stieß einen Zischlaut aus, tschtschtsch, um ihn zur Ruhe zu bringen, drückte fester. Und schließlich schaute sie ihn triumphierend an, als sie die letzte in die Schamlippen stach.
Dolphin empfand einen unbeschreiblichen Ekel und spürte, wie er eine Erektion bekam.
4
Er sagte seiner Sekretärin Bescheid und fuhr nach Hause. Er musste den Kopf freibekommen. Im Bad war es ganz still. Er schäumte sich das Gesicht ein, griff zum Rasierer und konzentrierte sich auf die Symmetrie der Links-rechts-Serie. Er stellte sich Ella vor, wie sie ihn beobachtete. Diese Vorstellung hatte, wenn er ehrlich war, ihren Reiz verloren. Wenn sie sich von hinten an ihn heranschlich und seinen Stiernacken küsste, führte das in der Regel zu einem Geschlechtsverkehr der konventionellsten Sorte. Oder sie weckte ihn, wie neulich, und entfachte eine Art von Leidenschaft, die sich als Strohfeuer entpuppte. Plötzlich tat sie ihm leid, doch das konnte er ihr unmöglich sagen.
Mit beiden Händen wusch er den Schaum weg und trocknete sich ab. Die Schwimmerin war noch immer vom Erdboden verschluckt. Warum meldete sie sich nicht? Sie wusste, wie er zu erreichen war. War ihre Geliebte schuld?
Wenn es nach Lord Bakerfield ginge, würde er sie nie mehr wiedersehen. Eine Frau, wie man sie nur in dieser Stadt treffen konnte.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte Dolphin sich geschämt, in Berlin geboren zu sein. Sein Vater Winston Segal Dolphin war Brite und arbeitete an der Humboldt-Universität als Lektor für englische Sprache und Literatur. Zur Entbindung wollte seine Mutter Elizabeth, die aus Cambridge stammte, nicht ohne ihren Mann nach England fahren. So kam es, dass Segal Dolphin in einem Gartenhaus am Savignyplatz zur Welt kam und dank den Bemühungen des Generalkonsuls zum Untertan Seiner Majestät des Königs wurde.
Als Kind hatte er seinen Vater gefragt, woher der Nachname stamme, was nie befriedigend geklärt werden konnte. Auf Deutsch hieß es Delfin. Und Delfine gab es nicht einmal im Zoologischen Garten.
Umso seltsamer war, dass sein Großvater Malcolm Dolphin Walfänger gewesen war. Er hatte blaue Augen. Das war Vater wichtig. Ansonsten schien er froh zu sein, dass der Ärmelkanal zwischen ihm und seinem Erzeuger lag. Weit weg von dem Tranöl, das ihm als Kind eingeflößt worden war.
Winston war aus der Art geschlagen. Statt Wale zu jagen, kam er, ausgestattet mit einem Stipendium der Universität Oxford, nach Europa, wo ein Strohhut mit grün-weiß-roten Bändern Zeuge für den Studienaufenthalt in Neapel war, während ein Kochbuch, mit unzähligen Varianten der berühmten Klopse, auf die Zeit in Königsberg verwies. Schließlich Berlin, wo ihm der Professorentitel verliehen wurde.
In seinen Stolz mischte sich Dankbarkeit, und so sprach er mit seinem Sohn bis zu dessen fünftem Geburtstag nur deutsch. Dann schickte er Segal mit der Mutter zum Englischlernen nach Cambridge. Nach einem Jahr Winstons Entzücken über die Sprachfertigkeit seines Sohnes. Und schließlich, im August 1914, die grässliche Gewissheit, dass er und seine Familie überrascht worden waren. Der Krieg. England gegen Deutschland. Sie saßen in der Falle, und Segal war mit einem Mal der Feind.
Ein Junge aus seiner Klasse beschloss, den dreckigen Engländer Mores zu lehren. Er traktierte ihn so lange mit einer Eisenstange, bis Dolphin zu Boden ging und sich beim Fallen die Zunge durchbiss. In seinem Mund explodierte ein Schmerz aus Splittern und Kanten, Zähne zerfetzten das Fleisch, und er brüllte, wie er sich noch nie hatte brüllen hören. Dolphin wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war. Er brachte kein Wort heraus.
Der Hausarzt Dr. Benjamin sagte, es handle sich um einen Teilabriss, man müsse ständig kühlen und Geduld haben. Seine Mutter war außer sich. Sie schrie den Doktor an, er müsse auf der Stelle etwas tun. Doch Geld für eine Behandlung in der Charité hatten sie nicht. So dauerte es Wochen, bis er wieder zaghaft zu beißen versuchte. Zurück blieb eine Stelle, die für sein Gefühl niemals richtig verheilt war. Er konnte den Riss fühlen, vor allem, wenn etwas zu heiß war, und es blieb eine Verunsicherung, die er nicht in Worte fassen konnte.
Weil sein Vater es ablehnte, sich als Deutscher naturalisieren zu lassen, wurde er als feindlicher Ausländer interniert.
Mutters Gesicht war eine einzige Sorge.
Die ständige Angst, ertappt zu werden.
Sie bewegten sich wie Diebe durch die Tage.
Drei Jahre lang schreibt der Vater Bittschriften, bis die Behörden nachgeben und die Familie im Mai 1917 nach England ausreisen darf.
In London fühlt Segal sich als Flüchtling. Ein Jugendlicher, der nicht ganz sicher ist, ob er dort wirklich hingehört.
Das Rudern hilft, auch für das College in Oxford, wo er mit dem Achter bei der Henley-Regatta triumphiert. Dann das enttäuschende magna cum laude im Schlussexamen, auch die Bestnote in Germanistik kann kein summa herbeizaubern.
Schließlich das Schicksal in Gestalt eines kleinen Mannes mit wuchtigem Schädel und buschigen Brauen, der ihn grinsend fragt: »Mr. Dolphin, möchten Sie für den Daily Standard nach Berlin gehen?«
Was Lord Bakerfield in ihm sah, wusste er nicht so recht einzuschätzen. Ebenso wenig, wie er zu der Ehre kam, dass der Verleger ihn anlässlich der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags in den Colony Room einlud, der hinter