Am Ende des Schattens. Andreas Höll
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Im weißen Kittel des Wissenschaftlers stand Hubert Bleichert schon vor dem Eingang, um ihn in Empfang zu nehmen. Lebhaft gestikulierend führte ihn der pausbäckige Mann die Treppen hinauf zum Dachgeschoss, wo sich die anatomische Sammlung befand. In dem Speicher lagerten, dicht gedrängt in Regalreihen, Tausende von Skeletten und Knochen, von denen viele aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika stammten, wie Bleichert stolz bemerkte. Dolphin wurde flau im Magen. Vielleicht lag es an der stickigen Atmosphäre, vielleicht an dem undefinierbaren Geruch mit einem Stich ins Modrig-Süßliche, der über allen Dingen lag. Um sich Luft zu verschaffen, musste er etwas sagen, und da ihm nichts Besseres einfiel, wollte er von dem Anthropologen wissen, wie diese Sammlung zustande gekommen sei.
Bleicherts Augen leuchteten. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben und begann, vom früheren Direktor des Berliner Völkerkundemuseums zu erzählen, der kurz nach Niederschlagung des Hereroaufstands angeregt habe, ohne Erregung von Ärgernis, wie er sich ausdrückte, Leichenteile für die Wissenschaft zu retten. Und so sandten Forschungsreisende Schädel von verdursteten Herero an das Museum, die nach der Schlacht am Waterberg von den deutschen Schutztruppen in die Omaheke-Wüste getrieben worden waren, um dort den Tod zu finden. In einem anderen Fall, und jetzt trat Bleichert an das Regal heran und deutete auf gelbliche Knochenreste, handelte es sich um die Gebeine von Arbeiterinnen, die versucht hatten, der Farm eines deutschen Kolonisten zu entfliehen, und dementsprechend ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, und nachdem die Leichen als Corpus Delicti ans Obergericht in Windhuk gelangt waren, schickte sie die Kolonialverwaltung nach dem Gerichtsprozess zu Forschungszwecken nach Berlin.
Dolphin setzte der Geruch zu. Er griff nach seinem Taschentuch und hielt es sich vor die Nase. Unbeeindruckt davon fuhr Bleichert fort. Nur durch Unterstützung von Kolonialbeamten, Rassekundlern, Schutztruppenärzten und Missionaren sei es gelungen, noch in letzter Minute, ehe weitgehende Vernichtung und der Einfluss der modernen Kultur den ursprünglichen Sachverhalt weiter verwischten, die sterblichen Überreste für die Wissenschaft zu sichern. So erst konnte man, vor allem anhand von Schädelreihen, die Merkmale primitiver Rassen genauer bestimmen.
Als der Doktorand kurz innehielt, nutzte Dolphin die Unterbrechung, um auf seine Armbanduhr zu deuten und von einer unaufschiebbaren Telefonkonferenz mit London zu sprechen. Mit Bedauern nahm Bleichert dies auf und führte ihn hinunter zum Eingangstor.
Dolphin atmete tief durch. Er war froh, draußen auf der Straße zu sein, sog die Luft ein, den Geruch von Benzin und Braunkohle. Er sah Bleichert vor sich, mit geröteten Wangen, die sich beim Sprechen zu blähen begannen. Das fanatische Leuchten in seinen Augen, das einen unweigerlich abstieß, als seien Ideen alles und die Objekte seiner Wissenschaft nichts. Und Dolphin wusste nicht, wie er auf den Gedanken kam, der Forscher trage den Ausdruck eines Menschen auf dem Gesicht, der etwas gestohlen hatte.
Zurück im Büro erreichte ihn ein Anruf von Bakerfields Sekretärin, die einen Besuch des Verlegers in der Reichshauptstadt ankündigte. Schon morgen Nachmittag lande er auf dem Zentralflughafen und beabsichtige, im Hotel Adlon abzusteigen. Als Redaktionsleiter werde er gebeten, sich zur Verfügung zu halten.
Dolphin spürte, wie Nervosität in ihm aufstieg. Wie sollte er diese Visite deuten? Bislang hatte der Verleger sich noch nie im Berliner Büro blicken lassen. Kam er, um ihn womöglich noch früher abzuziehen? Oder ging es um die Themen kontinentaler Lebensart? Vielleicht wollte er auch nachschauen, wie weit die Recherche gediehen war. Im Moment verfügte Dolphin lediglich über die wenigen Informationen, die er sich stichwortartig bei den Gesprächen mit Fischer und Bleichert notiert hatte. Ohne ein weiteres Interview mit dem Institutsdirektor, ohne hochwertige Fotos von der Sammlung und eventuell auch historischen Aufnahmen aus Deutsch-Südwest, ergänzt durch aktuelle Auskünfte des Direktors des Völkerkundemuseums, konnte er die Titelgeschichte unmöglich publizieren. Und es gab noch nicht einmal den vereinbarten Folgetermin mit Fischer, der sich, wieder einmal, auf Reisen befand.
Für alle Fälle wies Dolphin die Sekretärin an, Kuchen zu kaufen, denn, so viel wusste er, der Lord liebte Süßigkeiten. Er selbst fuhr zum Kaufhaus des Westens, um dort Bakerfields Lieblingswhisky zu besorgen. Danach saß er lange in seinem Bürosessel, in das kahle Geäst vor seinem Fenster starrend, um vielleicht dort Klarheit zu finden, was dieser Besuch bringen würde.
9
Vorsorglich hatte seine Sekretärin eine Kaffeetafel hergerichtet, als am folgenden Nachmittag das Telefon klingelte und Dolphin ins Adlon beordert wurde. Mit einem Schulterzucken verabschiedete er sich von ihr und sprang in ein Taxi. Als er Dolphin in seiner Suite empfing, war der Verleger von Freunden umringt, die ihn wie einen Kranken umsorgten. Er stellte ihm den Schriftsteller Anthony Bentley vor, der kaum ein Wort sagte, und einen rotgesichtigen Mr. Castleton, der sich, wie er mit einem anzüglichen Lächeln bemerkte, von dem Abstecher nach Berlin Anregungen für seine Kolumnen im Sunday Standard erhoffte.
Zur Begrüßung ließ Bakerfield den mitgebrachten Whisky servieren und äußerte dann, unter reger Anteilnahme seiner Entourage, den Wunsch, dass der hiesige Redaktionsleiter ihnen zunächst einmal das sagenumwobene Berliner Nachtleben zeigen sollte. Dolphins Vorschlag, den Abend mit einem Opernbesuch einzuleiten, stieß auf einhellige Ablehnung, was ihn zur Frage führte, ob ihnen vielleicht eher der Sinn nach Pikanterem stünde. Ein Blick in die Gesichter reichte, um die Kühnheit zu besitzen, einen Tisch im Eldorado zu reservieren.
Der Abend wurde ein voller Erfolg. Die britischen Gäste ließen schnell alle Reserviertheit fahren, ergötzten sich an einem mädchenhaften Afrikaner, der bis auf Schamgurt und Brustschilde seinen ölglänzenden Körper präsentierte, rätselten über dessen täuschend echte Weiblichkeit und sein wahres Geschlecht, bis sie es schließlich anderen Herren gleichtaten und sich den Genuss leisteten, zwischen den Darbietungen mit effeminierten Männern in Frauenkleidern zu tanzen.
In angeheitertem Zustand bat Castleton ihn, Homosexuellen- und Nacktkulturmagazine zu besorgen. Am nächsten Tag, nach einem Katerfrühstück im Adlon, meldete sich auch der schweigsame Bentley. Dolphin bemerkte den prüfenden Blick der Frau am Zeitungsstand, als er zum zweiten Mal erschien. Beim nächsten Botengang, den er im Auftrag des Lords erledigte, schaute sie ihm direkt in die Augen. Es war ihm egal.
Gleich nachdem er Bakerfield und seine Entourage zum Flughafen begleitet hatte, fuhr Dolphin hinaus zum Wannsee. Er atmete tief durch. Der Besuch war völlig anders geendet, als er sich es jemals hätte vorstellen können.
Er genoss es, bei geöffnetem Verdeck, die Sonnenbrille im Gesicht, in seinem Cabriolet zu sitzen, und summte leise einen Schlager. Man konnte, so kurz vor Weihnachten, einfach nur staunen über diese ungewöhnliche Wärme.
Als er in sein Ruderboot stieg, fühlte er sich an seine Kindheit erinnert. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Mit Segelbooten auf einem tintenblauen See, die sich beim Aufklappen in den Horizont hineinstellten. Ein Häuschen aus Karton richtete sich am Ufer auf, das war die Villa des Malers Liebermann, davor der Rasen, auf dem Birken sich entfalteten mit den letzten Blättern, zitternd wie Papierschnipsel, in blinkendem Gold.
Dolphin hatte diese Bilderbücher geliebt, die Landschaften, Städte und Ritterburgen aus Pappe hochschnellen ließen, wenn man sie öffnete, und in Sekunden eine Welt hervorbrachten, auf die man wie ein Riese herabblicken konnte. Und er hatte den Wannsee geliebt, wo er zum ersten Mal mit seinem Vater rudern gewesen war. Die Szenerie hatte sich kaum verändert, wenn man sie vom Wasser aus betrachtete. Er sicherte die Ruderblätter, nahm das Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da war der Teepavillon am Ufer und der Garten. Man sah