Am Ende des Schattens. Andreas Höll
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Fräulein Herrmann erschrak, als er gegen Mittag, auf der Suche nach einem Glas Wasser, im Bad erschien. Sie polierte den Spiegel und bemühte sich, seinen Zustand zu ignorieren. Seine Augen waren verquollen, die Haare hatten ein wüstes Eigenleben entfaltet, dazu war er nur mit einer Pyjamahose bekleidet. Nachdem sie sich rasch entfernt hatte, trank er hastig einen Schluck und machte sich auf den Rückweg ins Schlafzimmer.
Durch die offene Tür sah er, wie Fräulein Herrmann im Wohnzimmer den Staubsauger in Betrieb nahm. Das Gerät kam ihm grotesk vor. Es erinnerte an ein Beuteltier, das unaufhörlich Dreck in seinen Blähbauch hineinfraß.
Dolphin ließ sich aufs Bett fallen und vergrub sein Gesicht im Kissen. Er schaute auf den Wecker, fluchte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schwitzte, hatte Durst. Draußen summte der Staubsauger. Sie führte ihn auf dem Teppich spazieren, minutenlang, hin und her, her und hin, als hätte sie einen Spürhund an der Leine.
Sein Schädel schmerzte. In der Nachttischschublade fand er eine Benzedrin. Und noch eine. Er rollte sich auf dem Bett zusammen, kniete auf der Matratze und zog sich die Decke über den Kopf. Er stellte sich an der Wand auf, ging zum Fenster. Aufrecht stehen, das half. Es war zu dunkel. Er machte die Vorhänge auf. Zu hell. Er zog sie zu, auf, zu, wie in Trance, die Bilder der Nacht kamen, gingen, auf, zu, auf, zu, zu, auf.
Das rote Licht, das wie Sirup an ihrer kalkweißen Haut herunterläuft
Mit verrutschter Perücke geht sie, hoch erhobenen Hauptes, zur Bar, was ihn rührt
Die Stille um sie herum, als fremde Menschen sich an den Schultern fassen und in einer wilden Polonaise durch den Saal galoppieren
Kalinka ist die Verniedlichungsform der russischen Bezeichnung für den Gewöhnlichen Schneeball, sagt jemand
Wie sie dasitzt vor ihrem Wodkaglas und den Inhalt taxiert, als müsse sie eine giftige Substanz bezwingen
Der Heldentenor auf dem Podium singt, begleitet vom Pfeifen des Mikrofons, von Birken, ohne jegliche Obertöne
Ihre aufgerissenen Augen, als sie ihn auf sich zukommen sieht
Er nennt sie Sidonie, und sie bekommt einen Lachanfall, der ihr völlig entgleitet und in einem Röcheln endet
Sie will nicht wissen, auch nicht von Natascha, die sich um Dolphin sorgt, dass Kalinka von Iwan Petrowitisch Larionow komponiert wurde
Plötzlich ihre Hand, die ihn auf die Tanzfläche zerrt, wo sie etwas Langsames tanzen. Oder war es Tango?
Schlechte Mikrofone und schreiende Sänger können nicht lineare Verzerrungen produzieren. Das hatte er einmal im Haus des Rundfunks gelernt
Zärtlich schmiegt sie sich an Dolphin, versucht, die Arme um seine Schultern zu schlingen, als wolle sie einen Schrank umklammern, dann wandern ihre Finger zu den Schultern hinauf, er spürt ihre Brustwarzen durch den Stoff der ärmellosen Weste
Er füttert sie mit Blinis, und sie lässt sich füttern wie jene Tiere, die von ihren Wärtern aufgezogen werden wie das eigene Kind, bis sie in einem einzigen Moment alles vergessen und mit einem Prankenhieb zerfetzen
Beim nächsten Tanz übernimmt sie die Führung, was Natascha, die ihnen zuschaut, nicht zu passen scheint
Sie trinken Wodka um Wodka, bis sie ihn küsst und ihm den Schnaps in den Mund spritzt
Überhaupt hat sie etwas gegen sentimentale Volkslieder
Vergebens schaut er sie an: Sie will nicht sagen, wo oder wer der Tänzer ist, und macht eine resignierte Bewegung, als verscheuche sie eine Fliege
Nachfragen hilft nicht, sie weicht aus; stattdessen macht sie sich über die schwangeren Matroschkas lustig und sagt vertrackte Sachen
Natascha wendet ihr den Rücken zu, als sie ein weiteres Schälchen Kaviar auf den Tresen stellt
Jetzt weiß er, an wen ihn der Tänzer erinnert. Das Lauernde, sein jähes Emporschnellen, es ähnelt jenem Jack in the Box, der an Dolphins drittem Geburtstag aus der Schachtel sauste und ihm einen gewaltigen Schreck einjagte
Die ärmellose Weste über der nackten Haut und das Schillern des Stoffs an ihrem Gesäß, das, von Ausprägung und Vollkommenheit her, an eine Ballerina erinnert, aber das sagt er ihr nicht. Vielleicht hat sie auch etwas gegen das Bolschoi
Zu den vertrackten Sachen gehört: Frauen als Austräger fremder Wünsche, das mache sie schwerfällig und anfällig für die Vermehrung
Da sie sich zu drehen beginnt, würde er nur zu gerne Schienen um ihren Barhocker legen und sie auf einem Wägelchen umrunden, um sie zum Stillstand zu bringen
Jack in the Box hatte auf Deutsch komischerweise Springteufel geheißen, aber rot lackiert waren sie überall
Sie winkt ab, als er sie nochmals fragen will, und steigert sich in eine Suada hinein und wütet gegen die Reproduktion der Gattung. Was hat sie bloß gegen Kinder?
Alkohol reinigt, auch wenn er aus fremden Mündern kommt
Irgendwann verbeugt sie sich wie ein Zirkusdirektor, nimmt mit todernster Miene die blonde Perücke ab und schreit auf einmal: Hereinspaziert!
Als er Stunden später wieder aufwachte, fiel es ihm siedend heiß ein. Er hatte tatsächlich das Interview mit Professor Fischer verschlafen, ein Interview, mit dem er letzten Endes Lord Bakerfield und auch dessen Freund Churchill zu überraschen gedachte. Mit einem Satz sprang er auf und rief seinen Fotografen an. Der Verleger hatte Wort gehalten, das musste man ihm lassen, und noch dazu das Budget des Berliner Büros aufgestockt.
Hirohito teilte ihm in knappen Worten mit, er habe drei Stunden vor dem Kaiser-Wilhelm-Institut auf ihn gewartet, dann mit der Sekretärin telefoniert, die auch nichts von Dolphins Verbleib wusste.
Ob er mit Professor Fischer gesprochen habe, fuhr Dolphin dazwischen und hob nervös die Stimme.
Aber natürlich, entgegnete Hirohito, er habe dem Herrn Institutsdirektor mitgeteilt, es könne sich nur um einen Notfall handeln, der den Redaktionsleiter davon abhielt, das lange geplante und für den Sunday Standard wie die britische Politik so bedeutsame Interview zu führen, und er sei sich sicher, bald werde man den Grund erfahren und erhielte dann die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen, so denn der Herr Direktor weiterhin zur Verfügung stünde, was dieser mit einem spontanen Kopfnicken bestätigte.
Dolphin war erleichtert. Hirohito hatte ihn gerettet. Der japanische Bauhaus-Absolvent war ein Glücksfall. Wenn er die deutschen Wörter so sorgfältig aussuchte, als hielte er ein Werkstück gegen das Licht, wenn er sie inspizierte und dann zurechtfeilte, um sie mit der Präzision eines Feinmechanikers in verschachtelte Konstruktionen einzupassen, musste Dolphin an dessen maschinenhafte Konzentration denken, die ihn in die Lage versetzte, in der Diffusion des Augenblicks das Bild zu erkennen. Vor allem, wenn er Menschen porträtierte,