Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll

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Liebermanns Birkenallee im Wannseegarten nach Westen war nicht zu übertreffen. Nun lag es in einer entlaubten Fassung vor ihm.

      Eine Störung ging von diesem Bild aus. Einige Birken standen mitten auf dem Weg, als habe der Gärtner sie vor vielen Jahren übersehen. Sie waren, so schien es, einfach aus der Reihe getanzt. Dass der Künstler sie stehen gelassen hatte, zeugte von Großzügigkeit und einem traumwandlerischen Sinn für Komposition. Als Betrachter fühlte man sich geborgen, wenn die Wirklichkeit hinter dem Bild verschwand. Schob sie sich zurück in den Vordergrund, war man wieder mit sich allein. Es war ein Gefühl, das jenem ähnelte, nachdem die Schwimmerin verschwunden war. Mit einem Mal war der Zauber erloschen, und es blieb nur die Erinnerung an eine flirrende Begegnung, die ebenso gut eine Illusion hätte sein können. Falls er sie niemals wiedersähe, wovon auszugehen war, läge es jetzt nicht mehr an Lord Bakerfield. Der Verleger hatte ihn zum Abschiedsessen ins Adlon eingeladen und bei Whisky und Zigarren schließlich verkündet, er sei mittlerweile zu der Einschätzung gekommen, dass Berlin doch in vielerlei Hinsicht aufregender und auch journalistisch ergiebiger sei, als man es von der Insel aus wahrnahm. Es sei eine Art Labor des modernen Lebens, das sicherlich auch auf andere Weltmetropolen ausstrahlen werde, und diese Experimente, die vielfach in neue Dimensionen vorstießen und mit althergebrachten Konventionen brächen, müssten auch die britischen Leser interessieren, wo doch das Reich auch verkehrstechnisch immer näher rücke. Man müsste es ja nicht so weit treiben wie die Schriftsteller Isherwood und Auden, die er gestern Abend zufällig in dem famosen Cosy Corner in der Zossener Straße getroffen habe, denn die Jungautoren seien gleich ganz von London aus übergesiedelt und hätten sich hier, und dabei hob er connaisseurhaft die Augenbrauen, zu Inspirationszwecken niedergelassen.

      Er jedenfalls ermutige Dolphin ausdrücklich, neben der politischen Berichterstattung auch an die Themen der kontinentalen Lebensart zu denken, und nach allem, was er nun gesagt habe, werde es seinen Gastgeber nicht verwundern, wenn er dessen Vertrag doch für drei Jahre verlängere und den frisch gebackenen Doktor aus Oxford erst einmal zum Parlamentskorrespondenten mache. Außerdem sei es nun an der Zeit, im Berliner Redaktionsbüro mit einem festangestellten Fotografen zu arbeiten. Das Visuelle gewinne heutzutage immer mehr an Bedeutung. Ohne suggestive Bilder, die zudem exakte Recherche mit Anschaulichkeit und Evidenz untermauerten, sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Und als Zugabe hatte er ihm, unter dem vielsagenden Nicken von Castleton und Bentley, einen Black Label Blended Scotch aus dem Jahr 1918 überreicht.

      »Warum Black Label?«, wollte Dolphin wissen.

      »Jetzt enttäuschen Sie mich«, schmunzelte Bakerfield.

      Er schaute ihn fragend an.

      »Keine Idee?«

      »Der Afrikaner im Eldorado?« Dolphin wagte ein schüchternes Grinsen,

      Lachend schüttelte der Verleger den Kopf. »Kommen Sie«, sagte er und nickte aufmunternd, »das Datum.«

      Als Dolphin immer noch schwieg, platzte es aus ihm heraus: »Totale Niederlage, Verlust aller Kolonien, Exil.«

      Unter dem Gelächter seiner Freunde öffnete Lord Bakerfield die Flasche, und sie tranken auf den abgedankten Kaiser Wilhelm, dem sein Verrat an der englischen Großmutter einen wenig heldenhaften Abgang beschert hatte.

      »Was für ein Hurensohn«, lachte der Verleger, »aber in Holland ist er gut aufgehoben, bevor er in die Grube fährt.« Und dann legte er Dolphin die Hände auf die Schulter, als segne er ihn, und flüsterte: »Ich habe noch Großes mit Ihnen vor.«

      Dolphin beugte sich über den Bootsrand und schaute ins Wasser. Hatte Bakerfield es ernst gemeint? Oder war es nur einer Laune entsprungen wie dessen Besuch in Berlin?

      Mit dem Schlag des Ruderblatts zerstörte er sein Spiegelbild, das im Kräuseln der Wellen unterging. Und dann legte er sich in die Riemen und ruderte so lange, bis er völlig außer Atem war und die Wirklichkeit von keinem Bild mehr eingeholt wurde.

      Monate später, in einer schwülen Julinacht des Jahres 1931, raffte Dolphin sich dazu auf, nach Wilmersdorf zu fahren. Schon als er aus der Haustür trat, klebten die Kleider an seinem Körper. In einer fahrigen Parallelaktion öffnete er das Verdeck seines Cabriolets, während er, viel weiter als angemessen, das Hemd aufknöpfte und sich nach der Kühle des Fahrtwinds sehnte. Er bereute es bereits, Fürstenaus Einladung angenommen zu haben.

      Die kurze Strecke brachte nur wenig Erleichterung, und nachdem er den Wagen geparkt hatte, näherte er sich widerwillig der Babuschka Bar.

      Das Lokal platzte aus allen Nähten. Gelächter vermischte sich mit Balalaikaklängen, dazu der Gesang eines übersteuerten Heldentenors; und immer wieder Getrampel, als fegte eine Kavallerie über die Tanzfläche.

      Er ließ sich in einem Séparée im Datscha-Stil nieder, das überraschend kühl war. Verstohlen wischte er sich mit dem Taschentuch über die Stirn, knöpfte das verschwitzte Hemd bis auf den obersten Knopf zu und versuchte, sich in Form zu bringen.

      Zu seinem Erstaunen entdeckte er Louis Brody an einem Tischchen in der Nähe des Tanzparketts. Dieses Mal war er nicht von Bewunderinnen umringt, sondern sein Kollege Willy Fritsch saß neben ihm und prostete mit seinem kussmundhaften Filmschauspielerlächeln in die Runde. Dolphin konnte auch William Thomson erkennen, einen massigen Boxer, der es als schwarzer Champion aus Dänisch-Westindien zu einiger Bekanntheit gebracht hatte und sich von Zeit zu Zeit im Romanischen Café sehen ließ.

      Nun erhob Brody das Wodkaglas. In perfekter Synchronisation legten die Tischgenossen die Köpfe in den Nacken und richteten sich nach einer Kippbewegung wieder auf. Ihre Sommeranzüge, die Bühnenscheinwerfer in Rosa tauchten, harmonierten ebenfalls, und es schien, als seien sie sich selbst genug, sodass Dolphin nicht einmal den Versuch unternahm, hinüberzuwinken.

      Er wartete auf seinen Kollegen André Fürstenau von der Vossischen Zeitung, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Das sah ihm ähnlich. Es ging ihm nie um das Essen selbst. Er war ein Mann mit einer Mission.

      Dolphin saß in seiner Nische und beobachtete das Trio, wie es scherzte, trank, Blinis und Kaviar vertilgte.

      Fürstenau hatte wenig Sinn für die Welt des Films, ganz zu schweigen von der des Sports. Für ihn waren das im Grunde läppische Freizeitvergnügungen. Stattdessen hatte er sich wieder, wie er mit einem mokanten Lächeln zu sagen pflegte, in die Rittmeistersache verbissen.

      Im Mittelpunkt seiner Recherchen, die sich, ausgehend von den altbekannten Fakten, ins Reich verschiedenster Hypothesen hinaufschraubten, befand sich Rittmeister Curt von Westphal, der einstmals zu den auffälligsten Figuren im Parlament gezählt hatte. Sein Ruf verdankte sich einer eigentümlichen Mischung aus Realpolitik und Spleen: einerseits machtbewusster Reichstagsabgeordneter mit exzellenten Verbindungen zum Reichskunstwart bis hin zum Innenminister, zum anderen promovierter Musikwissenschaftler mit einem abseitig anmutenden Faible für den Jazz. Laut amtlicher Diagnose hatte er vor zwei Jahren, aus Gründen, die sich nie zufriedenstellend klären ließen, Hand an sich gelegt. Sein Leichnam, vergiftet von einem Cocktail aus Barbitursäure und Alkohol, war in einem Stundenhotel in Spandau aufgefunden worden. Trotz allerlei Merkwürdigkeiten wurde der Fall rasch zu den Akten gelegt, einzig Fürstenau hegte Zweifel an der Selbstmordthese, was sich für Dolphins Begriffe so langsam zu einem Tick steigerte.

      Wo andere ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier sahen, bemerkte Fürstenau mikroskopische Flecken, seien es Spuren von Radiergummi oder einer Rasierklinge, mit der womöglich ein getuschtes Geheimzeichen entfernt worden war, und es sah aus, als verliere er sich immer mehr in diesen Kalligrafien des Verschwindens.

      Rund

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