Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll

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und zugleich kämpferisch Bettine von Westphal gewirkt habe. Sie wollte endlich jenen Falschmeldungen und Verleumdungen entgegentreten, die nach dem Tod ihres Gatten zunächst in den völkischen, dann aber auch den liberalen Blättern verbreitet worden waren. Sie habe Fürstenau in ihrer Wannseevilla, übrigens nur einen Steinwurf weit entfernt vom liebermannschen Anwesen, mit selbst gebackenem Apfelkuchen und ihrer Tochter Clara auf dem Schoß empfangen, fest entschlossen, ihr Schweigen zu brechen und für die Rehabilitierung ihres Gatten zu kämpfen.

      Fürstenau trank einen Schluck Wasser und wirkte erschöpft. Die Blonde drehte sich in den Armen des Mannes. Es sah aus, als wolle er sie in einem diffizilen Ritual unter Kontrolle bringen, wenn er sie mit schleichenden Bewegungen einlullte, um sie dann mit einem Hüftschwenk zu überrumpeln und zum Rande des Parketts zu führen, wo er geschmeidig, als absolviere er einen Slalom, um die Sektkühlerständer herumtanzte. Und bei all diesen Manövern hatte er seine Lippen an ihrem Ohr und redete die ganze Zeit auf sie ein.

      »Das Problem ist nur«, sagte Fürstenau und seufzte, »dass die Witwe erst jetzt an die Öffentlichkeit gehen will.« Unmittelbar nach Westphals Tod sei sie wie gelähmt gewesen, außerstande, die Fragen des Kriminalkommissars zu beantworten, geschweige denn der Presse gegenüber jene Gerüchte zu widerlegen, nach denen ihre Ehe zerrüttet gewesen sei. Nach Fürstenaus Schilderungen war sie mit der gerade geborenen Clara und ausdrücklicher Unterstützung ihres Gatten in ihr Elternhaus gezogen, um sich dort von den Strapazen der Geburt zu erholen. Und der besuchte sie, sooft es seine Pflichten zuließen, glücklich wie selten zuvor, als zugegebenermaßen später, aber desto zärtlicherer Vater, schloss Fürstenau und schickte, wie das Zitat eines Zitats, ein zerstreutes Lächeln hinterher.

      Der Tänzer flüsterte noch immer in das Ohr seiner Partnerin. Andere Paare waren auf das Parkett geströmt und verdeckten sie für einen Moment. Es mussten aufregende Dinge sein, welche die junge Frau zu hören bekam. Dinge, die Dolphins Fantasie entzündeten. Das Funkeln in ihren Augen. Reflexe einer unbestimmten Lust, gipfelnd in einem Aufschrei, worauf er mit dem Daumen über ihre Unterlippe strich, was unglaublich obszön aussah. Sie ließ es über sich ergehen, den Mund geöffnet, und Dolphin sah eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die ihn seltsam berührte.

      Fürstenau redete und redete. Der Haken an der ganzen Geschichte sei, und jetzt hob er die Stimme, dass die Westphals eine, sagen wir mal, sehr moderne Auffassung des Ehelebens vertraten. Bettine habe ihm seine Freiheiten gelassen, von Anfang an, wie sie freimütig erklärte. Er war ein richtiger Mann und mochte junge Dinger, er holte sich dort den Appetit, aber immer wieder sei er zurückgekommen. Doch ein schlagendes Argument, murmelte Fürstenau, habe die Witwe vorgebracht. Wenn er sich schon umbringen wollte, dann sicher nicht in einem Stundenhotel, das hätte er weder seiner Familie noch sich selbst zugemutet. Wenn, dann wäre der Abgang mit Würde erfolgt, mindestens im Adlon.

      Sie waren untergetaucht in einem Gewirbel aus Köpfen, Rücken, Armen. Jetzt sah er den Mann, wie er ihren Nacken knetete. Sie krümmte sich, starr wie eine Katze.

      »Was willst du tun?«, fragte Dolphin, um etwas zu sagen, und schaffte es doch nicht, sie aus den Augen zu lassen. Fürstenau schwieg, was erstaunlich war. So müde hatte er ihn noch nie erlebt.

      Sie duckte sich weg, als ein kostümierter Kosak auf die Tanzfläche stürmte und mit zackigen Kommandos eine Polonaise anführte. Irgendwie rutschte dabei ihr blonder Haarschopf nach vorne, bis auf die Nase, während der Mann feixte und lachte, bis sie ihn wütend von sich stieß und die Frisur geraderückte. Als er ihr gleich darauf mit spöttischer Miene durch das Haar fuhr, sah es einen Augenblick lang aus, als wolle sie ihm ins Gesicht schlagen. Doch dann rauschte die Polonaise durch das Bild und sie gingen im Getümmel unter.

      »Hörst du mir zu«, knurrte Fürstenau, »hier bin ich«, sagte er und wedelte mit den Händen, »hier, Herr Dolphin.«

      Er nickte und zwang sich, Fürstenau anzuschauen.

      »Ich werde«, sagte er nun grimmig entschlossen, »nicht lockerlassen, bis der Fall neu aufgerollt wird.« Westphals Ehe sei eigenartig, aber nicht zerrüttet gewesen. Und der Rittmeister war keinesfalls der Typ, der vor den Nazis in die Knie gegangen wäre, mochten noch so viele Morddrohungen in seinem Briefkasten gelegen haben. Jemand musste das sehr geschickt inszeniert haben, das sage ihm sein Instinkt. Und wenn es kein Suizid war, dann wanke die Republik.

      Eher pflichtschuldig und ohne rechte Energie wollte Dolphin widersprechen, doch die Kellnerin erlöste ihn und schenkte Wodka nach, während Fürstenau demonstrativ die eine Hand über das Glas hielt. Mit der anderen schaufelte er einen letzten Löffel Borschtsch in sich hinein, schob den Teller weg und bezahlte. Dann drängte er zum Aufbruch und wollte wissen, ob er ihn mitnehmen solle. Dolphin schüttelte den Kopf. Er deutete auf sein Wodkaglas. »Bleib sauber«, murmelte Fürstenau und verschwand.

      Auf dem Weg zur Toilette kam Dolphin an einer Vitrine vorbei. Sie schwankte ganz leicht. Umrahmt von gläsernen Regalböden multiplizierten sich zahllose Matroschkas in den Spiegeln. Natascha bot die Puppen zum Verkauf an. Sie kamen noch immer aus Russland, das ihrer Familie so übel mitgespielt hatte. Die Farben, das Birkenholz, die Erinnerung an den Geruch des Frühlings, das alles speicherte die Heimat wie in einer Kapsel. Und wenn auch die äußere Hülle zerstört wurde, gab es eine weitere, die die nächste beschützte, und so gab es die Hoffnung, dass wenigstens der innerste Kern, der nichts mehr enthielt, unzerstört bleiben würde.

      Das Heimweh war ihre Ressource. Er mochte den Gedanken. Es glich der Unendlichkeit in der Vitrine. Sein Heimweh, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war komplizierter. Er lebte dort, wo er geboren und aufgewachsen war. Er sprach wie alle anderen, doch die Erinnerung an etwas, was er nie richtig kennengelernt hatte, schob sich dazwischen. Seinem Britischsein haftete etwas Theoretisches, Angelerntes an, und deswegen hatte er das Bedürfnis, es stärker zur Geltung zu bringen, während er sich zugleich der Lächerlichkeit bewusst war, nicht einmal als expatriate durchzugehen.

      Er hing dem Gedanken nach. Er kam ihm notierenswert vor. Wenn er getrunken hatte, spürte er eine Weite, die er, so er es denn endlich in Angriff nähme, für sein Berlin-Buch brauchen würde. Es war jenes Stadium zwischen Nüchternheit und Betrunkensein, in dem er sich von den täglich wechselnden Neuigkeiten und dem Kampf um die nächste Story löste. Man musste sich auf das Wesentliche konzentrieren, doch was das Wesentliche war, das vergaß er unter dem zunehmenden Druck seiner Blase.

      Dolphin stand vor der Rinne, aus der stechende Dämpfe aufstiegen, und konzentrierte sich darauf, einen bestimmten Punkt über dem Abfluss anzuvisieren. Das Geräusch klang wie Regen auf einem Blechdach.

      Wie gewöhnlich hatte er sich in die hinterste Ecke der Herrentoilette verzogen, obwohl niemand sonst da war. Vom Saal wehten Wortfetzen und Gesang herein, untermalt vom Klang einer Balalaika.

      Weiter vorne öffnete sich leise eine Klotür. Zu seiner Überraschung kam der Tänzer heraus. Nach ein paar Schritten stand er vor dem Waschbecken. Er schien Dolphin nicht zu bemerken und schaute lange in den Spiegel. Sein Blick war eigenartig leer, als wäre er zugleich wach und schliefe. Die gleiche Art von Ausdruckslosigkeit lag darin, wie vorhin, als er die Tanzfläche verlassen hatte. Als versuche er, sich auszulöschen, um keine fremden Blicke auf sich zu ziehen.

      Er stand da in seinem makellosen weißen Hemd, fast unnatürlich aufrecht, die Daumen unter die Hosenträger geschoben. Er betrachtete sich, offenbar nicht unzufrieden mit dem Ergebnis, und reckte das Kinn in die Höhe. Dann ließ er, als sei es das Normalste auf der Welt, mit einem lauten Knall die Gummibänder schnalzen. Das Geräusch befremdete Dolphin. Es brachte eine Saite in ihm zum Klingen, hart und wollüstig, wie sein Verursacher.

      Und dann war er weg.

      Er war nicht sicher, ob der Mann ihn gesehen hatte. Er stand am Waschbecken, spürte das Schwanken und vermied es, in den Spiegel

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