Am Ende des Schattens. Andreas Höll

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Am Ende des Schattens - Andreas Höll

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Brecht da war, erstaunte ihn nicht. Er saugte an einer zeppelinhaften Zigarre, die er sich gerade von einem Kellner anzünden ließ. Nicht weit weg davon saß der Film- und Literaturkritiker Willy Haas und schrieb, begleitet vom gelegentlichen Nippen an einem Likör, in eine Kladde.

      Ein Gast, der, etwas abseits, an einem Marmortischchen Hof hielt, irritierte ihn. Es war ein breitschultriger Schwarzer in Nadelstreifenanzug. Er ließ gerade einen Stock aus Ebenholz so durch seine Finger gleiten, als gebe er mit dem silbernen Knauf den Takt an. Etwas von der Art eines Tambourmajors schwang mit, nur folgte er einem eigenen Rhythmus, der mit jenem der Märsche nichts gemein hatte. Er war umringt von einer Handvoll junger Frauen, die an seinen Lippen hingen, jederzeit bereit, in Gelächter auszubrechen, wenn die Lippen sich schürzten und das Signal für eine Pointe gaben. Er zog die Blicke auf sich und die Welt mit seinen Blicken an. Und als er sein Auge auf den Rücken des Obers warf, drehte der sich um, als sei er gerufen worden.

      Dolphin konnte sein Profil sehen. Jetzt war er sich sicher, dass es sich bei dem Herrn im Maßanzug um Louis Brody handeln musste. Ohne Turban und indisches Gewand war er kaum wiederzuerkennen. Er bezahlte, setzte einen samtweichen Fedora-Hut auf und ging zu Haas, worauf der Journalist aufstand, ihm lange die Hand schüttelte und mit einem Klaps auf die Schulter verabschiedete.

      Dolphin fuhr zurück ins Büro und versuchte, Ella zu erreichen. Niemand nahm ab. Er war erleichtert. Doch irgendwann würde er mit ihr reden müssen.

      Er schaltete die Schreibtischlampe ein. Ihm fehlte die Lust, die Einladungen durchzugehen, die sich zum Wochenende hin naturgemäß häuften. Sein Blick fiel auf die Mappe mit den Filmrezensionen, die seine Sekretärin herausgesucht hatte. Müde blätterte er in den Zeitungsausschnitten, die umso gelbstichiger wurden, je länger sie zwischen Aktendeckeln begraben lagen. Und siehe da, auf schlechtem, holzhaltigem Papier hatte ausgerechnet Willy Haas vor vielen Jahren eine Kritik über die Verfilmung von Schillers Verschwörung des Fiesco zu Genua verfasst:

       Eine der besten Leistungen, wahrscheinlich die stärksten überhaupt, war der Neger Musley Hassan des Lewis Brody: fleischig, verschlagen, bärenstark, mit der fast gutmütigen Ausgewitztheit des schillerschen Originals. An ihm, und vielleicht nur an ihm, ließe sich zeigen, wie viel von Schiller zum Film hinüberzuretten gewesen wäre – ungeheuer viel.

      Dolphin rieb sich die Augen. Ein Afrikaner als Retter der Klassik. Vielleicht sollte er ein Porträt über Brody schreiben. Lord Bakerfield, dessen war er sich sicher, wäre auf jeden Fall dagegen. Und ihn zu überzeugen, war im Moment jedenfalls vergebliche Liebesmüh.

      Eine Woche später meldete sich endlich das Kaiser-Wilhelm-Institut. Ob er gleich vorbeikommen könne, wollte die Vorzimmerdame wissen, Professor Fischer sei nur heute im Büro und dann wieder für mehrere Wochen verreist.

      Unverzüglich machte Dolphin sich auf den Weg. Als er aus dem Wagen stieg und sich dem Gebäude näherte, sah er einen Bronzekopf der Minerva, die, als Hüterin der Weisheit, den Eingang mit undurchschaubarer Miene bewachte. Er trat ein und wurde von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen, die ihn in den Ostflügel geleitete. Als sie schließlich die Tür öffnete, saß Professor Eugen Fischer gerade am Schreibtisch vor einer Unterschriftenmappe. Ohne den Kopf zur Seite zu wenden, signierte er mit schwungvoller Geste und präsentierte dabei sein Profil, das in gezackten Schwüngen Nase und Spitzbart verband. Das schräg einfallende Licht arbeitete plastisch seine Denkerstirn heraus, die Wimpern senkten sich wie Schirme. Er ließ sich Zeit. Dann stand er endlich auf und hieß den Gast willkommen.

      Nachdem er Kaffee und Cognac hatte servieren lassen, sah er, begleitet von allerlei Geplauder, die Zeit gekommen, grundsätzlicher über sein Metier zu sprechen. Er bezeichne sich zwar als Anthropologe, aber im Grunde sei er überzeugter Rassenhygieniker, auch wenn die derzeitige Regierung das Wort Rasse lieber vermeide. So trage man diesen politischen Empfindlichkeiten Rechnung, wobei sich an der Ausrichtung seiner Forschungen seit 1908 wenig verändert habe. Damals habe er in der Kolonie Südwestafrika, in der Gegend um Rehoboth, Menschen untersucht, deren Vorfahren aus Weißen, die meisten davon Buren, sowie Schwarzen bestanden, in der Landessprache Khoikhoi, im Deutschen besser bekannt als Hottentotten. Im Felde habe er Köpfe vermessen, Fotografien angefertigt und Sippentafeln erstellt, um die Wirkung von Umwelt und Erbe zu erforschen, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass sich menschliche Rassen ebenso nach den Mendelschen Regeln kreuzten wie zahllose Pflanzen- und Tierrassen.

      Plötzlich stand Fischer auf und trat vor das Regal, aus dem er einen Folianten herauszog und vor sich auf den Tisch legte. »Gestatten Sie mir, Mr. Dolphin«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, »dass ich die wenige Zeit, die uns heute bleibt, dazu nutze, Ihnen meine Forschungsergebnisse etwas genauer darzulegen?«

      Und während er den Band öffnete, begann er von der Rassenmischung der Rehoboter Bastards zu sprechen, die man als eine Zwischenstufe zwischen überlegenen Weißen und unterlegenen Schwarzen definieren müsse. Aus diesem Grund hatte er selbst ein strenges Apartheidsystem vorgeschlagen, nach dem die Mischlinge den Kolonialherren, unter anderem als Sicherheitskräfte, zu dienen hätten. Jetzt blätterte er in dem Buch hin und her, bevor er mit einem Mal Dolphin ansah und mit leiserer Stimme fortfuhr. Auch wenn man es heute nicht so deutlich sagen könne, gelte immer noch, dass Mischlinge im Grunde nur ein Lebensrecht hätten, wenn es im Interesse der Kolonialmacht sei. Und dann bat er darum, eine Passage aus seiner Studie vorlesen zu dürfen, was Dolphin mit einem aufmunternden Nicken beantwortete. Fischer befeuchtete seinen Zeigefinger, bevor er weiterblätterte, und schließlich fand er jene Stelle, die er als seine Conclusio bezeichnete.

       Also gewähre man ihnen eben das Maß an Schutz, was sie als uns minderwertiger Rasse gebrauchen, um dauernd Bestand zu haben, nicht mehr und nur so lange, als sie uns nützen – sonst freie Konkurrenz, das heißt Untergang.

      Der Professor machte eine Pause, um die Worte nachklingen zu lassen. Und dann fügte er hinzu, dass diese zugegebenermaßen kompromisslose Schlussfolgerung nur vor dem Hintergrund des hinterhältigen Hereroaufstands zu verstehen sei, dessen Niederschlagung, mit aller gebotenen Härte, die heilige Pflicht der deutschen Schutzmacht gewesen sei, um die Zivilisierung in diesem Teil der Erde weiter voranzutreiben, eine Mission, unter Erbringung beträchtlicher Opfer, die leider mit Kriegsbeginn beendet werden musste.

      Kurzes Klopfen war zu hören, dann erschien die Sekretärin mit der Mitteilung, das Taxi warte bereits. Im Hinausgehen entschuldigte sich Fischer, dass er sich leider verabschieden müsse. Er hoffe aber, zum Ausdruck gebracht zu haben, wie wichtig ihm das Interesse einer so renommierten wie international weitverbreiteten Zeitung an seiner Arbeit sei. Er verspreche hoch und heilig, dass Mr. Dolphin es nicht bereuen werde, wenn sie sich das nächste Mal träfen und dann wirklich alle Zeit hätten, in die Tiefe zu gehen, wie es dem journalistischen Anspruch eines Daily Standard angemessen sei.

      Es kostete Dolphin Mühe, sich ein Lächeln abzuringen, als Fischer ihm die Hand gab.

      Wie würde Lord Bakerfield reagieren, wenn er die Nachricht bekam, dass die Anregung seines Freundes Churchill noch immer nicht Eingang in die Wochenendausgabe fände?

      In Gedanken versunken fuhr er zum Savignyplatz und kaufte die Abendblätter. Verstohlen drehte er sich um und schaute zu dem Kriegsinvaliden hinüber, der wie immer an der Hauswand lehnte. Bei jedem Wetter trug er seinen abgeschabten Militärrock, das Eiserne Kreuz seltsam nach unten verrutscht auf jene Höhe, wo sich die Leber befinden musste. Am verstörendsten jedoch war sein Gesicht. Sein Kinn schien zu einer ballonartigen Geschwulst aufgedunsen, die den einen Mundwinkel grotesk nach oben zog. Der schiefe Mund war stets ein Stück weit geöffnet, als strömten Schreie aus ihm heraus, die niemand hören konnte. Dolphin griff in die Manteltasche, um eine Münze herauszuholen. Er schüttelte den Kopf, als der Veteran auf die ausgebreiteten Waren am Boden deutete. Auf Sicherheitsnadeln konnte

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