Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Группа авторов
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Die Kriterienfrage bildet sodann die Leitperspektive für die Überlegungen Leiners zum Verständnis von außerbiblischen Texten der Christentumsgeschichte. Auch um mit den Abweichungen dieser Texte von der biblischen Überlieferung umgehen zu können, sei es erforderlich, verstehenstheoretische Vorentscheidungen zu treffen. Die hermeneutischen Reflexionen Leiners sind von einem Schriftverständnis geleitet, das besagt, dass in der Bibel eine von Christus her bestimmte »Dynamik« angelegt sei, die sich in späteren Texten |117|der Christentumsgeschichte als eine »Rekapitulationsdynamik« niederschlage. Die Aufgabe der theologischen Hermeneutik bestehe dementsprechend darin, Texte der Christentumsgeschichte aus der von Christus als Mitte des Neuen Testaments bestimmten Dynamik heraus zu verstehen. Dieses Verstehen gelinge, wenn folgende zwei Kriterien veranschlagt werden: »ob und inwieweit sie [sc. die Texte der Christentumsgeschichte, G.N.] Jesus Christus entsprechen und ob und in wie weit sie als Evangelium, als frohe Botschaft von der Liebe Gottes, rezipiert werden können«. An das von Leiner andeutungsweise dargelegte hermeneutische Programm möchte ich drei Anfragen richten.
1) Die erste Frage betrifft die Feststellung, dass die neutestamentlichen Schriften »eine Dynamik enthalten, die von Leben, Lehre und Geschick Jesu Christi ausgeht«. Diese Dynamik wird mit dem Ausdruck der »Sprach-Bewegung« verbunden und als eine »semiotische« Kategorie ausgewiesen. Sowohl der Begriff der Dynamik als auch der der Sprach-Bewegung sind in dem Referat Leiners aber nur thetisch eingeführt worden. Um dem vorgeschlagenen Schriftverständnis besser nachdenken zu können, wäre eine Näherbestimmung beider Begriffe genauso hilfreich wie der Ausweis des Möglichkeitsgrunds ihrer Synthetisierbarkeit. Eine Konkretion wäre nicht zuletzt des zentralen systematisch-theologischen Stellenwerts wegen wünschenswert, der sich an mindestens zwei Gesichtspunkten ablesen lässt. Zum einen scheint die Verknüpfung des Dynamik-Begriffs mit dem des Sprachgeschehens die Funktion zu besitzen, den »garstige[n], breite[n] Graben« (Lessing) der Geschichte zu überbrücken, der zwischen dem Neuen Testament und späteren Texten der Christentumsgeschichte besteht. Zum anderen versucht Leiner damit ausdrücklich die Starrheit des reformatorischen Schriftprinzips aufzubrechen, was aber indirekt auch bedeutet, an diesem grundsätzlich festzuhalten. Gerade der letzte Gesichtspunkt fordert zur Diskussion heraus. Denn spätestens seit der Aufklärung befindet sich dieses Prinzip – mit Wolfhart Pannenberg gesprochen – in einer Krise.[10]
|118|2) Die zweite Frage zielt auf die konkrete Bedeutung der beiden von Leiner veranschlagten Kriterien. Für die Näherbestimmung des ersten Kriteriums, also der Entsprechung der Bekenntnisformulierung mit »Jesus Christus«, kämen eine Vielzahl von Elementen in Betracht, was Leiner auch indirekt andeutet, wenn er bemerkt, von »Jesus von Nazareth, seinem biblischen Bild und den historischen Rekonstruktionen« ausgehen zu wollen. Doch welche christologischen Elemente sind es im Einzelnen, mit denen spätere Texte der Christentumsgeschichte verglichen werden sollen? Die Dringlichkeit dieser Frage resultiert nicht zuletzt daraus, dass das historisch-kritisch rekonstruierte Jesusbild vom biblisch überlieferten grundlegend abweichen kann.[11] Die hier formulierte Anfrage gilt aber gleichermaßen für das zweite Kriterium – die Liebe Gottes. Auch hier wären für das Verständnis dieses Ausdrucks konkretisierende Bestimmungen hilfreich. Das gilt umso mehr, als der Ausdruck in den synoptischen Evangelien nur einmal auftaucht (Lk 11,42)[12] und in den anderen neutestamentlichen Schriften auch nicht einheitlich verwendet wird. Hinzu kommt, dass dieser Ausdruck innerhalb der Christentumsgeschichte vielfachen Wandlungen unterworfen ist, die sich nicht ohne Weiteres auf die biblische Überlieferung abbilden lassen.[13]
|119|3) Leiner interpretiert den Text des Apostolikums ausschließlich mittels der beiden genannten Kriterien. Die diesem Text immanente Bedeutung wird dabei nur am Rande gestreift und die Situation, in der dieser Text entstanden ist, sowie die wechselvolle Entstehungsgeschichte, die – wie oben im Anschluss an Kattenbusch angedeutet wurde – Ausdruck eines hochkomplexen geschichtlichen Werdens ist, nicht berührt. Hieran schließt die Frage an, ob es nicht – gerade auch aus hermeneutischen Gründen – sachgemäß wäre, gegenüber dem zweiten Artikel eine Text- und eine Situationshermeneutik vorzunehmen, um die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen in die gedankliche Beurteilung der darin getroffenen Aussagen miteinzubeziehen und das Apostolikum damit als Ausdruck gelebter Frömmigkeit verständlich zu machen.
|120|Weiterführende Fragen
1 Können Sie die kritischen Rückfragen des Respondenten an die beiden Aufsätze nachvollziehen? Erscheinen Sie Ihnen berechtigt?
2 Was halten Sie von der Unterscheidung von »wesentlichen« und »unwesentlichen« Aspekten dessen, was den Christus ausmacht?
3 Reflektieren Sie, welche Aspekte der irdischen Existenz Jesu Christi grundlegende Bedeutung für das Heil haben: sein Menschsein, sein Judesein, seine individuelle Konkretheit, seine Geschlechtlichkeit und sein Mannsein? Inwiefern kommt diesen Aspekten im Blick auf das Verständnis der Heilsbedeutung Jesu Christi unterschiedliche Tragweite zu?
Fußnoten
»Die kirchliche Predigt und Unterweisung muß ständig von neuem das Paradox betonen, daß der Mensch Jesus ›Christus‹ genannt wird – ein Paradox, das oft verlorengeht, wenn in Liturgie und Homiletik ›Jesus Christus‹ als Eigenname gebraucht wird« (P. TILLICH, Systematische Theologie II, Berlin/New York 1987, 108).
Damit ist bereits eine erste Pointe verbunden. Denn Niebuhr signalisiert damit von vornherein, dass Paulus kein geeigneter Kandidat dafür ist, Jesus von Nazareth aus der Christologie zu verbannen – und das gilt eben auch für die paulinische Christologie selbst. Es dürfte Konsens sein, dass der von Martin Kähler und Rudolf Bultmann geltend gemachte Hinweis auf 2 Kor 5,16 sich als philologisch und exegetisch nicht belastbar erwiesen hat. Bultmanns Ruf danach, den Χριστὸν κατὰ σάρκα (d.h. den »irdischen Jesus«) »brennen« zu lassen (vgl. R. BULTMANN, Zur Frage der Christologie [1927], in: DERS., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1933, 85–113, 101), ist längst verhallt.
Vgl. – je unterschiedlich akzentuiert – TILLICH, Systematische Theologie II (s.Anm. 1), 107–109; W. PANNENBERG, Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in: DERS., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 21971, 22–78, 63.66.
F. KATTENBUSCH, Das apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein Beitrag zur Symbolik und Kirchengeschichte II: Verbreitung und Bedeutung des Taufsymbols (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1900), Hildesheim 1962, 959. Auch wenn das vermutlich in Rom entstandene Taufsymbol von Kattenbusch so früh datiert wird, hält er ausdrücklich fest: »Direkt apostolisch kann es freilich auch nicht sein« (ebd.).
F. KATTENBUSCH, Das apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie