Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Der Weg in die Moderne ist aber nicht nur der Weg eines einsinnig vor sich hin prozessierenden Fortschritts gewesen; er ist nicht minder durch Probleme gekennzeichnet, die allererst solcher Fortschritt in die Welt gebracht hat, und auch die Probleme der Modernisierung haben in der Geschichte der Literatur tiefe Spuren hinterlassen. Die Verwissenschaftlichung der Welt und die dadurch mögliche Mobilisierung aller natürlichen und kulturellen Ressourcen ließ mancherorts einen totalitären Machbarkeitswahn, einen Totalitarismus entstehen. In
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Verbindung mit der Säkularisation führte der Siegeszug der Wissenschaft in eine weltanschauliche Unruhe hinein, die vielfach als problematisch erlebt wurde, insofern sie die verschiedensten Formen von Materialismus, Skeptizismus und Nihilismus aus sich entließ. Die neuen Formen der Mobilität wurden von den Menschen immer wieder als eine Art „Entwurzelung“, als Herausgerissenwerden aus einem Gefüge von Lebensformen erfahren, das Sicherheit und Orientierung verbürgte. Der Pluralismus stellte sich als „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ dar, und in Verbindung mit der Individualisierung als „Atomisierung“ der Gesellschaft. Und die immer stärkere Fokussierung auf das Individuum führte mancherorts zu einer Art Selbstaufhebung der Individualisierung in einer radikalen Problematisierung des Ichs, die allerlei plurale Ich-Konzeptionen auf den Weg brachte.
Schließlich gehören zum Weg der Literatur in die Moderne auch die vielen Ersatzreligionen hinzu, die im Zuge der Modernisierung entstanden sind, jene quasi-religiösen Weltanschauungen, die es den Menschen erlauben sollten, sich auf dem Boden einer säkularisierten Kultur mit der Modernisierung und ihren problematischen Seiten ins Benehmen zu setzen. Hier ist zunächst der Glaube an den Fortschritt selbst zu nennen, wie er sich in den Formen des Glaubens an die Geschichte (Historizismus) und des Glaubens an die Wissenschaft (Szientismus) realisiert hat, sodann der Glaube an die Natur (Pantheismus), die „Kunstreligion“ (Ästhetizismus) und die „Humanitätsreligion“, schließlich die „Nationalreligion“ und die anderen politischen Ersatzreligionen als Sonderformen des Historizismus sowie der Glaube an das Leben (Vitalismus) als eine Weiterentwicklung des Pantheismus, bei der das säkularisatorische Moment stärker zur Geltung kommt. Diese Ersatzreligionen gehören neben der Entwicklung der modernen Wissenschaften zu den wichtigsten ideengeschichtlichen Voraussetzungen der literarischen Entwicklung, sei es daß die Literatur unbewußt von ihnen beeinflußt worden ist, sich bewußt in ihren Dienst gestellt oder kritisch an ihnen abgearbeitet hat.
Damit sind bereits die wichtigsten der thematischen Schwerpunkte benannt, die das Rückgrat dieses Leitfadens durch die Geschichte der neueren deutschen Literatur bilden sollen. Was dabei an Autoren und Werken zur Sprache kommt, soll vor allem so ausgewählt werden, daß sich diese Schwerpunktthemen an ihnen exemplarisch entwickeln und
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diskutieren lassen. Allerdings soll bei ihrer Auswahl auch auf ihren Stellenwert im Kanon der Überlieferung geachtet werden; denn von einer Einführung wird zunächst und vor allem erwartet, und zu Recht erwartet, daß man sich in ihr mit dem Kanon vertraut machen kann.
Leitfragen
So soll denn in jedem der fünf Bände die Darstellung der jeweiligen Großepoche von den folgenden Leitfragen aus aufgerollt werden: 1. Welches Bild haben wir heute von ihr? Was von ihr und ihrer Literatur hat sich im kulturellen Gedächtnis erhalten, und auf welche Weise, unter welchen Vorzeichen? 2. Was sind seinerzeit die prägenden kulturgeschichtlichen Entwicklungen gewesen, und was die entscheidenden ideengeschichtlichen Bewegungen, wie sie sich in der Literatur wiederfinden? Und 3. wie haben sich von diesen Voraussetzungen her der soziokulturelle Stellenwert und die Auffassungen von Literatur, das literarische Leben und die Literatur selbst verändert? Wenn dabei dem kultur- und ideengeschichtlichen Wandel und dem literarischen Leben verhältnismäßig viel Platz eingeräumt wird, so wird damit auch der Entwicklung Rechnung getragen, die die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten genommen hat, dem, was man ihre kulturwissenschaftliche Wende genannt hat. Und auch hier soll versucht werden, die zeitgenössischen Quellen so oft wie möglich selbst sprechen zu lassen; der Leser soll nicht nur sozialgeschichtliche Großthesen von heute zu hören bekommen, sondern mit der Vorstellungswelt und den Realitäten der Epoche selbst Fühlung aufnehmen können.
Revision der Literaturgeschichte
Schließlich zielt dieser Versuch einer Rekonstruktion der Literaturgeschichte am Leitfaden der Geschichte der Modernisierung nicht nur darauf, den Studierenden eine erste Orientierung an die Hand zu geben, die dem heutigen Stand der Wissenschaft genügt. Es verbindet sich mit ihr auch die Hoffnung, der Wissenschaft selbst Impulse geben und Beiträge zu einer Revision der literaturgeschichtlichen Bestände leisten zu können. Wenn so weite literaturgeschichtliche Zusammenhänge ins Auge gefaßt werden wie hier, dann kann es nicht ausbleiben, daß einige der Probleme neuerlich in den Blick treten, die nur allzu gerne an den Grenzen zwischen den etablierten Spezialgebieten, insbesondere in den Übergangszonen zwischen den Epochen liegengelassen werden, und gerade ihnen soll besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.
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Spezialisierung und methodische Diversifikation bedeuten ja nicht nur einen Gewinn, sondern immer auch einen Verlust. Sie schaffen die Möglichkeit, sich bestimmten Gegenständen intensiver zuzuwenden, indem sie ausblenden, was an ihnen eigentlich nur in weiteren literarhistorischen Kontexten kenntlich werden kann. So kommt es, daß dort, wo innerhalb eines Spezialgebiets zur Profilierung des jeweiligen Gegenstands dann doch einmal auf Gegenstände anderer Spezialgebiete Bezug genommen, etwa des literarhistorischen Vorher und Nachher gedacht wird, immer wieder auf Vorstellungen zurückgegriffen wird, die in diesen anderen Spezialgebieten schon längst in Frage gestellt worden sind – die bereits erwähnten Allgemeinplätze, in denen ältere Stufen der Literaturgeschichtsschreibung konserviert sind. Und das mindert natürlich den Ertrag der Spezialforschung empfindlich, ja stellt ihn gelegentlich überhaupt in Frage.
So ist zum Beispiel dort, wo von der Literatur des Sturm und Drang, der Klassik oder der Romantik gehandelt wird, vielfach nach wie vor an zentraler Stelle von der „Überwindung der Aufklärung“ die Rede, so wie es sich in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts – aus mehr als problematischen Gründen – eingebürgert hat; dabei wird Aufklärung mit Rationalismus oder Logozentrismus gleichgesetzt. Ob es um den Sturm und Drang, die Klassik oder die Romantik geht – immerzu soll der angebliche Rationalismus der Aufklärung überwunden werden. Dabei hat die internationale Aufklärungsforschung schon vor Jahrzehnten – in Deutschland spätestens seit Cassirer, oder jedenfalls doch seit Kondylis – klargestellt, daß die Literatur der Aufklärung des 18. Jahrhunderts dem Rationalismus, wie er aus der frühen Neuzeit auf sie gekommen ist, prinzipiell kritisch gegenübersteht und statt dessen an einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ arbeitet, auf Sensualismus und Sentimentalismus setzt.
Wo der nicht auf die Aufklärung spezialisierte Sturm-und-Drang-, Klassik- oder Romantikforscher auf die Literatur der Aufklärung blickt, fällt ihm dann natürlich nur in die Augen, was sich da allenfalls noch an Restbeständen eines älteren Rationalismus findet. Freilich, wie soll er diese Bestände als Restbestände erkennen können, wenn er den Rationalismus der frühen Neuzeit, insbesondere den Neustoizismus des Humanismus nicht kennt, jenen Neustoizismus, der die Literatur bis hin zum Barock prägt und für die Aufklärung dann zu der Folie
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wird, vor der sie sich mit Neuem, Andersartigem profiliert. Und wie soll er, wo er den vernunftkritischen Grundimpuls der Aufklärung und seine Entfaltung in Sensualismus und Sentimentalismus nicht erfaßt hat, erkennen können, in welchem Maße noch die Literatur von Sturm und Drang und Klassik von ihm getragen ist. Ohne Kenntnis des Humanismus kein rechtes Verständnis des Barock, ohne Kenntnis des Barock kein rechtes Verständnis der Aufklärung, ohne Kenntnis der Aufklärung kein rechtes Verständnis des Sturm und Drang, der Klassik und Romantik