Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Aus der Wendung der Romantik zum Nationalismus entspringt dann allerdings ein kultur- und zivilisationskritischer Diskurs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer mehr die Oberhand gewinnt und für den solcher Pluralismus vor allem den „Verlust der Einheit“ oder „Verlust der Mitte“ bedeutet. Hier erscheint er als die innerste Quelle einer Entwicklung, über der sich die Gesellschaft von einer organischen Menschengemeinschaft in ein Gefüge von Institutionen, eine bürokratische Maschine verwandelt und das Individuum jeder Möglichkeit beraubt wird, sich innerlich zu ihr und zu den anderen Individuen ins Verhältnis zu setzen. Von diesem Nicht-fertig-Werden mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaft bezieht die Literatur seit der Jahrhundertwende wesentlich die Energien, die sie mit der Überlieferung brechen, die überkommenen Formen sprengen und nach neuen, andersartigen Möglichkeiten der Darstellung Ausschau halten lassen; es begründet jenen „modernen Antimodernismus“, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht. Ob die zweite Jahrhunderthälfte hier mit dem Schritt in eine Postmoderne einen Wandel hat bringen können, wird sich wohl erst in Zukunft klären.
Komparatistischer Zugriff
Daß am Leitfaden dieser Entwicklungslinien in die Geschichte der neueren deutschen Literatur eingeführt werden soll, hat zur Folge, daß hier nicht nur die deutschen Verhältnisse und deutsche Quellen in den Blick genommen werden können. Der Weg in die Moderne ist ja ein Weg, den die Deutschen und ihre Kultur mit anderen europäischen Nationen teilen, den sie mit ihnen gemeinsam und in ständigem Austausch mit ihnen gegangen sind, so daß er kaum verständlich werden könnte, wenn man sich auf Deutsches beschränken wollte. So soll zumindest an einigen neuralgischen Punkten der Entwicklung komparatistisch verfahren und der Einwirkung der Kultur und Literatur dieser anderen Nationen Rechnung getragen werden. Das betrifft zunächst den Humanismus, der ein gemeineuropäisches Phänomen war, wie er sich ja auch vor allem des Neulateinischen als gemeineuropäischer lingua franca bediente. Die wesentlichen Impulse der Aufklärung kommen aus England bzw. Schottland und aus Frankreich nach Deutschland. Die Französische Revolution und ihre Folgen lassen die deutsche Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder nach Paris schauen. Und auch die ersten Impulse eines Modernismus im engeren Sinne hat die
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deutsche Literatur mit Symbolismus und Naturalismus aus Frankreich empfangen, um von ihnen aus in den Raum einer internationalen Moderne einzutreten. Dem ist die gebührende Beachtung zu schenken.
Belegpraxis
Zum Schluß noch ein Wort zur Belegpraxis. Jedem, der mit der Forschungslandschaft vertraut ist, ist klar, daß bei einer Arbeit wie dieser, den Üblichkeiten der Wissenschaft gemäß, eigentlich bei jedem Absatz, ja fast bei jedem Satz eine seitenlange Diskussion zu führen wäre, in der die vorgetragenen Thesen mit der Forschungslage abgeglichen würden. Das kann aber natürlich nicht geschehen; es hätte den Erstickungstod des Unternehmens zur Folge. So sollen hier in den Anmerkungen vor allem die Zitate nachgewiesen werden; dabei soll auf möglichst leicht erreichbare Ausgaben zurückgegriffen werden. Darüber hinaus sollen lediglich einige besonders ergiebige, rasch weiterführende Anschlüsse an die Forschungsdiskussion benannt werden. Was sich in Handbüchern und Lexika nachschlagen läßt, bleibt ohne Nachweis.
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1 Einleitung
1.1 Die Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis
Neuere Deutsche Literatur
Wer sich für ein Studium der Germanistik und hier wiederum für den Schwerpunkt Neuere Deutsche Literatur entscheidet, der wird dabei kaum schon an die Literatur der frühen Neuzeit denken. Sein Interesse wird durch die Begegnung mit der Literatur anderer Epochen geweckt worden sein, mit Werken vor allem der Gegenwartsliteratur und der Klassischen Moderne, vielleicht auch des 19. Jahrhunderts, der Klassik oder der Romantik, allenfalls noch des 18. Jahrhunderts. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis er bemerkt, daß die Wissenschaft die Geschichte der Neueren Literatur bereits um 1500 beginnen läßt und daß dies gute Gründe hat; daß sein Bild von der Neueren Literatur historisch unterbelichtet und sein Zugriff auf die Werke späterer Epochen in manchem unsicher bleiben würde, wenn er sich nicht auch mit der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts vertraut machen wollte, wie sie ihm unter Epochenbegriffen wie Renaissance und Humanismus, Reformation, Gegenreformation und Barock entgegentritt.
Eckpfeiler des kulturellen Gedächtnisses
Freilich wird er zunächst noch kaum eine Vorstellung davon haben, was er von der Beschäftigung mit ihr für sich und seine literarischen Interessen zu erwarten hat. Denn nur wenig hat sich von ihr im kulturellen Gedächtnis erhalten, ist im literarischen Leben der Gegenwart präsent. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal gehört, daß Martin Luther in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit eine deutsche Hoch- und Literatursprache auf den Weg gebracht habe, oder daß Martin Opitz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Literaturreform durchgeführt habe, die eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zur Klassik, zu Lessing, Goethe und Schiller, Hölderlin und Kleist gewesen sei, doch wo trifft man schon einmal auf einen Text von Luther und
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Opitz selbst? Kirchgänger haben wohl noch immer einige geistliche Lieder von Luther im Ohr – „Ein feste Burg ist unser Gott“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – oder auch Lieder von Paul Gerhard und einigen anderen ansonsten wenig bekannten Dichtern des Barock – „O Haupt, voll Blut und Wunden“, „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ – doch wer besucht noch regelmäßig einen Gottesdienst?
Wer sich für die deutsche Geschichte interessiert oder wer gerne in die Oper geht, mag schon einmal auf Hans Sachs und die Meistersänger von Nürnberg gestoßen sein; das bedeutet freilich im allgemeinen nicht, daß er auch einem ihrer Meisterlieder begegnet wäre. Immerhin hat sich mancherorts die Erinnerung an einige der sogenannten „Volksbücher“ erhalten, insbesondere an „Schwankromane“ wie die von Till Eulenspiegel und von den Schildbürgern; man kennt deren Geschichten allerdings eher durch moderne Bearbeitungen als durch die Lektüre der Originaltexte. Und natürlich ist „Barocklyrik“, sind Gedichte von Paul Fleming, Andreas Gryphius oder Christian Hofmann von Hofmannswaldau noch immer ein Gegenstand des Deutschunterrichts; man darf aber wohl bezweifeln, daß sie bei einer größeren Zahl von Schülern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, daß sie für sie mehr sind als einer unter vielen befremdlichen Schulstoffen. Einzig Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und sein Roman „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ scheinen besser in Erinnerung geblieben zu sein, und überdies unter Vorzeichen, die auch einen Leser von heute eine interessante Lektüre erwarten lassen: da soll man Einblick in die Welt des Dreißigjährigen Kriegs erhalten, und zwar auf eine durchaus spannende, unterhaltsame Weise, ja es soll noch nicht einmal an deftigen Szenen fehlen! Der Rest ist vergessen, scheint allenfalls noch für eine hochspezialisierte Literaturwissenschaft von Interesse zu sein.
Die frühe Neuzeit als Zeit des Übergangs
Daß sich nur so wenig von der Literatur der frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis erhalten hat, ist auch ein Werk der Germanistik – ausgerechnet der Germanistik, von der man doch anderes erwarten möchte. Aber sie hat nicht nur ihr Teil zu der altehrwürdigen Tradition der Vernachlässigung der frühen Neuzeit beigetragen, sondern sich eine zeitlang auch noch alle Mühe gegeben, diese auf den Boden einer wohlbegründeten Theorie zu stellen. Wenn man eine der Literaturgeschichten