Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems

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der seither zu einem nicht wegzudenkenden Bezugspunkt der deutschen Literatur geworden ist.5 Aber nicht nur in Deutschland ist Shakespeare bis heute einer der meistgelesenen und meistaufgeführten Theaterautoren – er ist es weltweit. Wo immer man sich für Theater interessiert, da hat man auch schon einmal etwas von „Romeo und Julia“ und „Hamlet“ gehört, von „Macbeth“ und „Othello“, „Julius Caesar“, „Richard III.“ und „Heinrich V.“, dem „Kaufmann von Venedig“, „Der Widerspen­stigen Zähmung“ und dem „Sommernachtstraum“.

      Wie präsent das Oeuvre Shakespeares im kulturellen Leben der Gegenwart ist, ist nicht zuletzt daraus zu ersehen, daß es öfter verfilmt worden ist als das jedes anderen Autors der Weltliteratur. Fast jedes Jahr bringt mehrere neue Verfilmungen, und sie finden vielfach selbst dann ihr Publikum, wenn sie – wie „Heinrich V.“ von Kenneth Branagh – im Kostüm der Shakespeare-Zeit daherkommen und sich an die hochpoetischen, mit humanistischem Bildungsgut vollgepfropften Originaldialoge halten. Und natürlich ist auch das produktive Gespräch der Literatur mit Shakespeare bis heute nicht abgerissen, auch und gerade dort nicht, wo sie sich entschieden modernen Konzepten verschrieben hat. Hier sei nur an die „Hamletmaschine“ (1978) von Heiner Müller sowie an den „Park“ (1983) von Botho Strauß erinnert, wo noch einmal die Elfenwelt des „Sommernachtstraums“ beschworen wird.

      Shakespeare ist wohl das beste Beispiel dafür, daß auch die frühe Neuzeit zu literarischen Werken fähig war, die das Publikum bis heute in ihren Bann zu ziehen vermögen, daß auch ihre Kultur über gedankliche und ästhetische Ressourcen verfügte, die eine Literatur entstehen ließen, die den Menschen bis heute etwas zu sagen hat. Shakespeare ist freilich eine einzigartige Erscheinung, und so lassen sich ihm nur

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      wenige Autoren an die Seite stellen, die auf ähnlich eindrucksvolle Weise für die Bildungswelt der frühen Neuzeit zeugen. Doch es gibt sie, und es gibt genug von ihnen, um den Befund zu verallgemeinern. Da ist zunächst an Cervantes – mit vollständigem Namen: Miguel de Cervantes Saavedra – und seinen Roman „Don Quijote“ (1605 –1616) zu denken, und sodann an Molière – mit bürgerlichem Namen Jean-Baptiste Poquelin – und dessen Theater, an Komödien wie „Der Arzt wider Willen“ (1667), „Der Misanthrop“ (1667), „Tartuffe“ (1669), „Der Bürger als Edelmann“ (1672), „Der eingebildete Kranke“ (1673) und „Der Geizige“ (1682). Wie die Werke von Shakespeare finden auch sie bis heute auf direktem Wege zu einem breiten Publikum.

      Und ein weiterer Autor kann hier noch genannt werden, der zwar nicht ganz so bekannt ist, weil sein Werk nicht der Kernzone der Literatur angehört, der jedoch gerade von der modernen Literatur als Gesprächspartner besonders ernst genommen worden ist: Michel de Montaigne (1533 –1592). Seine „Essais“ (1580 –1595), kurze Aufsätze über die verschiedensten Gegenstände des Interesses, gelten als erstes Beispiel der Gattung „Essay“ und Muster der essayistischen Schreibweise, also eines literarischen Phänomens, das gerne für typisch modern gehalten wird. In ihnen will man erstmals die Stimme des modernen Individuums vernehmen, wie es sich als Selbstdenker durch die Welt bewegt, selbst den ehrwürdigsten Traditionen und der Wissenschaft mit Skepsis begegnet und in allem auf die eigene Erfahrung und die eigene Einsicht setzt.

      Moderne Züge?

      Shakespeare, Cervantes, Molière, Montaigne – diesen Namen läßt sich aus deutscher Sicht allenfalls der von Grimmelshausen an die Seite stellen. Denn er ist der einzige, der eine vergleichbare Präsenz im literarischen Leben der Gegenwart hat, und auch das nur mit Abstrichen. Literarhistoriker neigen dazu, an den Werken der genannten Autoren um solcher Präsenz willen bereits moderne Züge zu entdecken, so als hätten diese etwas von den Lebensverhältnissen, den Interessen und Vorstellungen des modernen Menschen vorausgeahnt; und manche berufen sich dabei immer noch auf das, was eine Genieästhetik, die freilich inzwischen in die Jahre gekommen ist und weniger der Wissenschaft als der wundersamen Welt des populären Künstlerkitschs angehört, „die antizipatorische Kraft der Kunst“ nennt.

      Doch niemand kann in die Zukunft schauen, auch kein Dichter. Ein Shakespeare war genauso ein Kind seiner Zeit wie jeder andere

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      unter seinen schreibenden Zeitgenossen, war ebenso in die Lebens- und Vorstellungswelt seiner Epoche eingeschlossen wie sie und verfügte nicht über besondere, vom Himmel der Inspiration gefallene seherische Gaben – wie sollte er auch! Bei dem, was sein Werk vor anderen auszeichnet und was es die große historische Distanz bis heute scheinbar mühelos hat überwinden lassen, kann es sich nur um besondere gedankliche und ästhetische Qualitäten handeln, um Qualitäten, wie sie aus der Fähigkeit eines Autors erwachsen, schärfer und rücksichtsloser als andere in die Welt und auf die Mitmenschen zu blicken und die Möglichkeiten seiner Zeit energischer zu ergreifen und konsequenter und einfallsreicher zu nutzen als sie.

      Zwei weitere Momente kommen hinzu, die dem modernen Leser die Annäherung an die genannten Autoren erleichtern. Zum einen sind sie in Fragen der Religion zurückhaltender als viele ihrer Zeitgenossen, sind sie nicht so penetrant fromm und so ängstlich um theologische Korrektheit bemüht wie diese, was heute vom Leser im allgemeinen mit dem Gefühl der Monotonie quittiert wird: was auch an Geschichten, Gefühlen und Gedanken vor ihm ausgebreitet werden mag – am Ende steht der immer gleiche Sturz in den immer gleichen Abgrund des Glaubens. Von solcher Diskretion kann bei Grimmelshausen allerdings nicht die Rede sein; bei ihm sind religiöse Fragen allgegenwärtig. Dafür kommt sein Werk dem modernen Leser an anderer Stelle entgegen: es verlangt ihm nicht so viel an humanistischer Bildung ab wie das anderer frühneuzeitlicher Autoren, ist nicht in gleichem Maße mit dem gelehrten Wissen der Zeit durchdrungen; davon wird noch zu reden sein.

      Und zum andern sind die Werke dieser Autoren dank ihrer ununterbrochenen Präsenz über die Jahrhunderte hin dem modernen Leser am besten erschlossen. Jede Generation hat sie im Licht der jeweils neu aufkommenden Interessen gedeutet und damit ihr Teil dazu beigetragen, daß sie an den Horizont der Gegenwart herangeführt wurden. Wer heute Shakespeare liest, der kann dabei von dem Bild profitieren, das sich Aufklärung, Klassik und Romantik, Vormärz und Realismus von ihm gemacht haben; denn durch sie sind seine Texte nach und nach mit den meisten der Fragen und Gesichtspunkte in Berührung gebracht worden, die einen Menschen von heute bei der Lektüre leiten mögen.

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      Die Macht des kulturellen Gedächtnisses

      Es gibt in der frühen Neuzeit also doch eine ganze Reihe von Autoren und Werken, die bestens in Erinnerung geblieben sind, die unter dem Vorzeichen großer historischer und ästhetischer Bedeutung auf uns gekommen sind, und überdies auf eine Weise, durch die uns der Zugang zu ihnen leicht gemacht wird. Die Stellung im Haushalt des kulturellen Gedächtnisses und die Zugänglichkeit für den heutigen Leser sind freilich nicht alles. Das kulturelle Gedächtnis ist kein Gottes­gericht, und was dem Leser im ersten Zugriff Mühe bereitet, muß deshalb nicht immer schon irrelevant und uninteressant sein; ja ist es nicht vielfach gerade das wenig Beachtete und halb schon Vergessene, das Sperrige, Beschwerliche und Befremdliche, was uns am ehesten dazu verhilft, neue Erfahrungen zu machen und neue Einsichten zu gewinnen?

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