Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Hier hat man es also gerade auf jene „abendländische“ Identität abgesehen, mit deren Rekonstruktion die Literaturwissenschaft in ihrer komparatistischen Phase die engen Grenzen der Nationalphilologien zu überwinden suchte. Und auch die Art und Weise, wie sie seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch das Starkmachen sozialgeschichtlicher und sozialpsychologischer Fragen der Fixierung auf nationale Identitäten entkommen wollte, findet hier nur wenig Gegenliebe. Denn was sie dabei an Themen und Problemen benannte, die den Menschen aller Nationen und Kulturkreise gemein sein sollten, Themen wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft,
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individueller Freiheit und sozialen Zwängen, Selbstverwirklichung, Unterdrückung und Anpassung, gilt den „Postkolonialisten“ als Resultat einer Begriffsbildung, die ganz und gar Europa angehört, die nämlich auf dessen wissenschaftlicher Soziologie und Psychologie beruht, und damit auf einer spezifisch europäischen Kultur von Logik und Wissenschaft. Deshalb wäre es ihrer Meinung nach verfehlt, von ihnen aus außereuropäische Kulturen ins Visier zu nehmen.
Bei solchen Überlegungen verwickeln sich die „Postkolonialisten“ allerdings immer wieder in einen Widerspruch, der ihr gesamtes Unternehmen gefährdet: sie unterwerfen die Kultur Europas um einer möglichst schlagenden Kritik am „Eurozentrismus“ willen eben den starren Begriffen von Identität und Alterität, deren Anwendung auf fremde Kulturen sie ihr zum Vorwurf machen. Da meint man vielfach nur allzu genau und sicher zu wissen, was die problematischen Merkmale der europäischen Identität seien. Diesem Dilemma können die „Postkolonialisten“ wohl nur dadurch entkommen, daß sie ihre zentrale Frage, die nach dem Anteil der Identität am Definieren von Alterität, konsequent mit deren dialektischem Gegenstück verbinden, der Frage nach der Alterität im Binnenraum der Identität, und daß sie deren Ertrag auch ihrem Bild von der Kultur Europas zugute kommen lassen.
Das Fremde im eigenen Haus
Dabei dürfte es sich freilich um den schwierigeren Teil der Aufgabe handeln – schwieriger schon allein deshalb, weil er dem, der sie angeht, eine erhebliche psychische Anstrengung abverlangt. Denn die Frage nach dem, was in der eigenen Identität an Alterität umgehen mag, die Frage nach dem Fremden im eigenen Haus, ist eine unbehagliche Frage. Man möchte nur allzu gerne glauben, in der Kultur der Kollektive, denen man sich zugehörig fühlt – der Nation, der Region, der Gemeinde, der Familie, der Kirche, der Partei, des Vereins, der Alters- oder Berufsgruppe, der „peer group“ – sei einem alles gleich nah und zugänglich, sei man überall gleichermaßen zu Hause und bei sich selbst. Man möchte nicht wahrhaben, daß sich in dem Gefüge von Traditionen und Konventionen, mit dem man sich bei solchem Sich-zugehörig-Fühlen identifiziert, womöglich Momente verbergen, die man bei Lichte besehen nur mit Unverständnis und dem Gefühl der Verunsicherung würde quittieren können. Und doch kommt letztlich niemand daran vorbei, sich der Alterität in der Identität zu
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stellen, zumal heute, angesichts der Herausforderungen der „Globalisierung“. Denn nur wer um das Fremde im eigenen Haus weiß, kann Mittel und Wege finden, dem Fremden, das von außen an ihn herantritt, auf angemessene Weise zu begegnen.
Einkehr ins Eigene vs. Begegnung mit dem Fremden
Die „Nationalphilologie“ Germanistik näherte sich der Geschichte der deutschen Literatur von dem Gedanken aus, daß ein Deutscher beim Gang durch die verschiedenen Epochen nur auf Gegenstände treffen würde, die ihm im Grunde immer schon vertraut wären, in denen er überall sein Eigenstes, das „ewige deutsche Wesen“ würde wiederfinden können, so daß er sich in der Auseinandersetzung mit ihnen immer besser mit sich selbst bekannt machen und seiner Identität immer sicherer werden könnte. Ob Goethe oder Lessing, Opitz, Luther oder Hans Sachs, Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach, Dietrich von Bern oder Hermann der Cherusker – sie alle sollten ihm als einem Deutschen letztlich gleich nah und zugänglich sein. Aber das war nie mehr als eine windige Spekulation. Denn die deutsche Geschichte kennt wie die Geschichte jeder anderen Nation nicht nur Formen kontinuierlicher Entwicklung, sondern auch Kontinuitätsbrüche, Phasen tiefer Einschnitte und grundstürzender Wandlungen, und diese hatten nun einmal stets zur Folge, daß Traditionen abrissen und Konventionen ausrangiert wurden, daß kulturelle Bestände fremd und unverständlich wurden oder vollends dem Vergessen anheimfielen.
Als Deutsche brauchen wir gar nicht so weit in der Geschichte zurückzugehen, müssen wir uns nur in die Jahre vor 1945 zurückbegeben, um mit Beständen konfrontiert zu sein, die an verstörender Unbegreiflichkeit kaum zu überbieten sind, und wir müssen doch zugleich erleben, daß sie von anderen unserer Identität zugerechnet werden. Und auch wenn wir von diesem tiefsten, schmerzlichsten Bruch in der Kultur der Deutschen absehen, begegnen wir überall beim Gang durch die Geschichte dem Fremden im eigenen Haus. Schon die Lebens- und Vorstellungswelt der Deutschen des 19. Jahrhunderts sind uns in vielem fremd geworden, und erst recht die noch älterer Epochen, insbesondere die der Zeit vor dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, in dem die entscheidenden Schritte auf die uns vertrauten modernen Lebensverhältnisse zu getan worden sind.
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So kann man aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehen, wie die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts allen Ernstes hat glauben können, ein zeitgenössischer Deutscher habe mehr mit einem Goethe, Opitz, Luther, Walther oder Arminius gemein als mit einem zeitgenössischen Franzosen oder Engländer, zumal ja auch die Literatur jener Jahre eine ganz andere Sprache spricht. Denn deutsche Autoren wie Büchner, Heine und Fontane haben bei aller Differenz im Einzelnen letztlich die gleichen Fragen beschäftigt wie die meisten französischen und englischen Autoren ihrer Zeit, wie einen Balzac oder Flaubert, Lord Byron oder Dickens, und das waren Fragen, die weniger mit den besonderen nationalen Traditionen als mit der Veränderung der Lebensverhältnisse und des Welt- und Menschenbilds zu tun hatten, die sich hier wie dort im Zuge der fortschreitenden Modernisierung bemerkbar machte.
Natürlich hat die Welt, in der wir leben, eine Geschichte hinter sich, und natürlich lernen wir sie besser kennen, wenn wir uns mit den Lebens- und Vorstellungswelten auseinandersetzen, die die verschiedenen Stationen auf dem Weg zu den heutigen Verhältnissen markieren, wenn wir in den von der älteren Literaturgeschichtsschreibung erschlossenen Bahnen Goethe, Opitz, Luther und Walther studieren und uns mit dem antiken, jüdisch-christlichen und gemeingermanischen Erbe befassen, das die Komparatistik in den Blick gerückt hat. Aber dieses Kennenlernen kann sich für uns, die wir uns der Kontinuitätsbrüche der deutschen und europäischen Geschichte inzwischen nur allzu bewußt sind, eben nicht mehr allein in Gestalt einer Einkehr ins Eigene vollziehen. Es wird für uns ebensosehr den Charakter einer Begegnung mit dem Fremden haben, und wir werden uns des Fremden im eigenen Haus mit um so größerer Sorgfalt annehmen, als