Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Aber auch hierin war die europäische Welt der frühen Neuzeit noch weit von den modernen Verhältnissen entfernt. Die Keuschheit galt
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als eine höchste Tugend, zumal bei der Frau, und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster sprach – und wie wir noch sehen werden, war seinerzeit überall und immer von Tugend und Laster die Rede, auch und gerade in der Literatur – dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben „fleischlicher Gelüste“. Daß man der Keuschheit einen so hohen Stellenwert zuerkannte, hatte den gleichen Grund wie die Hochschätzung des Opfertods: es ging darum, die innere Welt gegenüber der äußeren Welt stark zu machen. Wer enthaltsam lebte, wer sich zumindest in die Domestizierung der Sexualität durch das Institut der Ehe zu schicken wußte, der stellte damit unter Beweis, daß der Mensch in der Lage war, sich mit seiner Seele und seinem Geist über die äußeren Bedingungen seiner Existenz zu erheben, wie sie in seiner Leiblichkeit und seiner Triebnatur gründen, daß er fähig war, sich der Verstrickung in die irdischen Dinge zu entreißen, und darauf kam es an.
Es hilft alles nichts – wer mit der Literatur der frühen Neuzeit ins Gespräch kommen will, der muß auch einen Zugang zu dem Gedanken der Keuschheit finden; der darf sich nicht mit der Perspektive eines Zeitgenossen begnügen, für den die Verhältnisse in den permissiven Gesellschaften des modernen Europa das Maß aller Dinge sind und der in ihm nicht mehr als einen Ausdruck heilloser Zurückgebliebenheit zu sehen vermag; der muß zumindest versuchen, ihn als eine Vorstellung ernstzunehmen, die für andere Menschen von Bedeutung war und ist, für Menschen, die wie jeder Mensch einen Anspruch auf unseren Respekt haben. Denn die frühneuzeitliche Literatur konfrontiert uns immer wieder mit Geschichten, in denen das Motiv der Keuschheit eine entscheidende Rolle spielt, ja man begegnet ihm selbst noch in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts an zentraler Stelle; man denke nur an Lessings „Emilia Galotti“ (1772) und Hebbels „Maria Magdalena“ (1844). Immer wieder geht es darum, die „Ehre“ einer Frau und damit zugleich die „Ehre“ ihrer Familie zu schützen, immer wieder greifen die beteiligten Männer – Väter, Brüder, abgewiesene und willkommene, treue und untreue Liebhaber – für diese „Ehre“ zur Waffe, riskieren sie für sie ihr Leben, und oft genug führt dies zu einem Ergebnis, das wir heute einen „Ehrenmord“ nennen würden.
Patriarchalische Verhältnisse
Der Mann als Beschützer der Frau – auch damit haben wir heute unsere Probleme. In traditionalen Gesellschaften wie denen der frühen
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Neuzeit herrscht das Patriarchat. Das Oberhaupt der Familie, der Hausvater, ist der Vormund seiner Frau und seiner Kinder, auch der erwachsenen, und hat ebensowohl die Pflicht, für sie zu sorgen, wie das Recht, über sie zu bestimmen. Und nicht nur die Familie – die gesamte Gesellschaft ist patriarchalisch organisiert. Es handelt sich nämlich um eine Ständegesellschaft, also um eine Gesellschaft, die hierarchisch in Stände gegliedert ist, die jeweils durch unterschiedliche Rechte und Pflichten definiert sind und denen der Einzelne durch Geburt angehört. Der Bau der Gesellschaft beruht hier also auf dem Gedanken der Ungleichheit der Menschen, während er heute in unseren Breiten wesentlich durch die Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz bestimmt ist.
An der Spitze der Ständepyramide steht der Fürst als der große Übervater der Gesellschaft. Von ihm aus geht es über die verschiedenen Stände des hohen und niederen Adels und der bürgerlichen und bäuerlichen Schichten hinab bis zu den Tagelöhnern und Bettlern. Die fürstliche Spitze ist von einem Personenkult umgeben, der keine Grenzen zu kennen scheint und an dessen Ausgestaltung sich auch die Literatur mit aller Selbstverständlichkeit beteiligt. Wenn es einem modernen Leser bei der Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Texten schon schwerfällt, die egalitären Impulse im Zaum zu halten, an die er in unserer Gesellschaft gewöhnt ist, so bringt es ihn vollends in Verlegenheit, wenn er auch noch für solche Nähe zur Macht Verständnis aufbringen soll. Die moderne Literatur lebt ja weithin von einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und hält von daher Distanz zu den Mächtigen. Das war in der frühen Neuzeit anders; da banden sich die Dichter nur allzu gerne an die Höfe der Fürsten, und sie standen nicht an, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine „affirmative“, bestätigende Weise zu würdigen.
Gottgegebene Ordnung vs. Entwicklung
Und das taten sie nicht nur, indem sie die Fürsten mit Lob überhäuften und dem kulturellen Leben an den Fürstenhöfen mit ihren Werken Glanz verliehen; sie taten es vor allem auch, indem sie die Ständegesellschaft zu einer gottgegebenen Ordnung verklärten, und das heißt zu einer Ordnung, die als unverrückbar und unantastbar zu gelten hatte. Hier treffen wir auf ein weiteres Moment, in dem sich die Lebens- und Vorstellungswelt der frühen Neuzeit grundlegend von dem unterscheidet, was wir heute gewohnt sind – ein letztes
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Moment, das hier vorab schon benannt werden soll. Für uns ist die Gesellschaft ein Gefüge, das überall und immer in Bewegung ist, das nicht nur in diesem oder jenem Teilbereich, sondern als ganzes einem Prozeß der Entwicklung unterliegt, den wir bald als Fortschritt und bald als Modernisierung oder Beschleunigung zu fassen suchen. Ja der Begriff der Entwicklung bestimmt unseren Blick auf die gesamte Welt, einschließlich der Natur und des Kosmos, sind wir es doch gewohnt, von einer Erdgeschichte, von einer Evolution des Lebens, der Arten und der Spezies Mensch und selbst von einer Geschichte des Kosmos zu sprechen.
In alledem sahen die Menschen der frühen Neuzeit statische Gebilde, in der Gesellschaft nicht weniger als im Menschen, in der Natur und im Kosmos; denn sie alle galten ihnen als in einem einmaligen Akt von Gott geschaffen, und das heißt eben, als unveränderlich, als von innen heraus, aus sich selbst in ihren Grundzügen nicht zu verändern. Wo wir in Kategorien des Werdens denken, da dachten sie in Kategorien des Seins und der Dauer. Natürlich bemerkten auch sie, wieviel in der Gesellschaft ihrer Zeit schon an Bewegung war, aber wie Shakespeares Hamlet konnten sie darauf immer nur wieder mit dem Satz „Die Welt ist aus den Fugen“ reagieren, konnten und wollten sie gegen Tradition und Konvention gerichtete Umtriebe nur als einen Aufstand gegen die göttliche Weltordnung verstehen, der einzig durch die demütige Rückkehr zur alten Ordnung wieder aus der Welt zu schaffen wäre.
Erste Schritte in die Moderne
Die Literatur der frühen Neuzeit führt uns in eine fremde Welt, und sie erschließt sich nur dem, der sich ihrer Fremdheit stellt; der bereit ist, in der Auseinandersetzung mit ihr liebgewonnene, für selbstverständlich gehaltene Vorstellungen auf die Probe der Alterität zu stellen, und der dazu auch fähig ist; der nämlich jenes Einfühlungsvermögen und jene Phantasie mitbringt, ohne die man sich nicht in Menschen hineinzudenken vermag, die einer anderen Lebens- und Vorstellungswelt angehören als man selbst. So fremd