Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems страница 10

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems

Скачать книгу

es einen Goethe und einen Schiller gegeben hat und daß diese etwas geschaffen haben, das heute noch von vielen für bedeutsam gehalten wird, wenn es vielleicht auch schon etwas angestaubt sein mag, und das wird in dieser oder jener Form einen Einfluß auf seinen Umgang mit Literatur haben. Und wenn man von einer bestimmten kulturgeschichtlichen Erscheinung nur wenig oder gar nichts zu hören bekommt, so wie von weiten Teilen der frühneuzeit­lichen Literatur, dann begründet auch dies eine

      [<< 35]

      Erwartung, nämlich eine Art „Null-Erwartung“, und auch solche „Null-Erwartung“ hat Folgen.

      Literaturwissenschaft und kulturelles Gedächtnis

      Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet den Wissens-Fond, um nicht zu sagen: den Bodensatz des literarischen Lebens, und so hat es die Literaturwissenschaft zunächst mit ihm aufzunehmen. Seine Kenntnis allein erlaubt es ihr, sich gezielt auf die Problemfelder einzustellen, um deren Bearbeitung willen sie von der Gesellschaft unterhalten wird: auf die Aufgabe, das literarische Leben zu fördern, indem sie ihm ein Mehr an Wissen zuführt und damit seinen Horizont und seinen Aktionsradius erweitert – ein Unternehmen, mit dem sich letztlich die Hoffnung verbindet, daß die Horizonte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens so überhaupt erweitert werden könnten, daß sich neue Optionen des Denkens und Handelns eröffnen oder vergessene Optionen neuerlich bewußt werden würden.

      Das erste, was die Literarwissenschaft bei der Annäherung an eine Epoche zu tun hat, ist also, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses zu sichten und sich von ihrem Einfluß Rechenschaft zu geben, so wie hier geschehen. Sie kann sich weder damit begnügen, diese Bestände einfach zu übernehmen, noch sie pauschal in Frage zu stellen; vielmehr muß sie versuchen, sie kritisch auf die Vorstellungen und Wertungen hin zu durchleuchten, die ihnen zugrunde liegen, die Voraussetzungen aufzuzeigen, unter denen sie sich gebildet, und die Folgen, die sie gezeitigt haben. Nur so kann ja jenes Mehr an Wissen entstehen, um dessen Gewinnung es zu tun ist.

      Dabei rückt eben das, was der kollektiven Erinnerung entfallen ist, was sie als etwas Beschwerliches und Befremdliches beiseite gesetzt und für überholt erklärt, ja um seiner Unbehaglichkeit willen womöglich verdrängt hat, in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht nun gerade um das Vergessene, Verdrängte und Befremdliche, und es geht selbst dort darum, wo man sich die Lieblingskinder des kulturellen Gedächtnisses, die Klassiker vornimmt. Denn anders als die Protagonisten des literarischen Lebens kann es sich ein Literarhistoriker, der die Aufgabe seines Fachs ernst nimmt, nicht mit einem aufklärerischen Cervantes, einem romantischen Shakespeare oder einem realistischen Grimmelshausen bequem machen, muß er es auch und gerade bei solchen kanonischen Autoren mit dem aufnehmen, was von einem heutigen Leser an

      [<< 36]

      ihren Werken im ersten Anlauf als irritierend und beschwerlich empfunden werden mag.

      Das Spannungsfeld von Identität und Alterität

      Dem Leser kann dies letztlich nur recht sein. Die Literarhistorie kommt damit nämlich einem Verlangen entgegen, das in jeder Lektüre mit am Werk ist, ja das geradezu einen Grundimpuls des Lesens bezeichnet. Denn warum greifen wir zu einem Buch? Doch weil wir einmal etwas anderes hören wollen; weil wir über die Lebens- und Vorstellungswelt, an die wir gewöhnt sind, hinausgehen und uns mit Möglichkeiten des menschlichen Daseins konfrontieren wollen, die nicht die unseren sind, die uns insofern zunächst fremd sind und vielleicht sogar auf Dauer fremd bleiben. Freilich verbindet sich damit die Hoffnung, über solcher Lektüre auch etwas für die eigene Lebens- und Vorstellungswelt zu gewinnen, zu erleben, daß die eigenen Selbstverhältnisse zugleich sicherer und offener werden und das eigene Leben und Denken sowohl eine Bereicherung erfahren als auch klarere Konturen annehmen.

      Die moderne Literaturwissenschaft verhandelt diese beiden Aspekte des Lesens gerne unter dem Titel „Identität und Alterität“. Lesend gehen wir sowohl auf Momente aus, mit denen wir uns identifizieren können, als auch auf solche, die uns als ein „alter“, ein Anderes, Unbekanntes, Fremdes entgegentreten. Genauer betrachtet, handelt es sich um einen Prozeß dialektischer Wechselwirkung. In der Konfrontation mit Alterität konstituiert sich Identität, und im Innewerden von Identität wird Alterität allererst zu Alterität. Dies ist aber eben als ein Prozeß zu verstehen und nicht als ein einmaliger Akt mit einem unverrückbaren Resultat. Denn die Begegnung mit dem Fremden kann auch dazu führen, daß wir in einen produktiven Dialog mit ihm eintreten und es uns unter diesem oder jenem Aspekt zueigen machen. Damit aber geraten beide Seiten gleichzeitig in Bewegung: Fremdes hört auf, fremd zu sein, und die Identität wird eine andere – was nichts anderes heißt, als daß Momente, mit denen man sich bis dato identifiziert hat, nun selbst zu etwas Fremdem werden.

      Jede Lektüre vollzieht sich in einem Spannungsfeld von Identität und Alterität, Lesergewohnheit und Leserneugier, und je mehr ein Text der Neugier an Alterität, an Unbekanntem, Ungewöhnlichem, Befremdlichem zu bieten hat, desto mehr kann im Leser bei der Auseinandersetzung mit ihm in Bewegung geraten, desto besser sind die

      [<< 37]

      Aussichten auf eine spannende und ergiebige Leseerfahrung. Wenn das aber richtig ist, dann muß uns gerade eine Literatur wie die der frühen Neuzeit, die uns wegen ihrer großen historischen Distanz inzwischen in vielem fremd geworden ist, eben weil sie uns fremd geworden ist, besonders viel zu sagen haben. Freilich wird man sich den Schatz an Leseerfahrungen, den sie für uns bereithält, nur in dem Maße ­erschließen können, in dem man es bewußt und gezielt mit diesem fremd Gewordenen aufnimmt, in dem man sich bei der Lektüre nicht mit bequemen Möglichkeiten der Identifikation zufrieden gibt und alles andere einfach überliest.

      Literaturgeschichte im Dienst der nationalen Identität

      Wie bereits erwähnt, gehen die ersten Anfänge der Germanistik auf das frühe 19. Jahrhundert und die nationalromantische Bewegung zurück, formierte sie sich unter dem Vorzeichen des nationalen Gedankens, wie er alsbald nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa zu einer Dominante der Kultur werden sollte. Demgemäß

      [<< 38]

      verfolgten ihre Gründer, die Generation der Brüder Grimm, mit dem neuen Fach vor allem ein Ziel: sie wollten ihren deutschen „Volksgenossen“ mit der Erforschung der deutschen Sprache, Literatur und Volkskultur ein Bewußtsein von ihrer nationalen Identität, ihrer deutschen Eigenart geben und damit einen Beitrag zum „Werden der Nation“ leisten; denn das hatten die Deutschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ja erst noch vor sich. In diesem Sinne sollte das neue Fach der alten, der Klassischen Philologie, die sich um die griechische und lateinische Welt kümmerte, als eine Nationalphilologie an die Seite treten.

      Dabei ging man mit größter Selbstverständlichkeit von zwei Voraussetzungen aus, die sich keineswegs von selbst verstehen, die vielmehr durchaus problematisch sind und einer kritischen Prüfung bedürfen. Zum einen begriff man die nationale Identität als Basis der Identität des Individuums; das Ich sollte nur in eben dem Maße zu sich selbst finden, mit sich ins reine kommen können, in dem es sich seines deutschen Charakters bewußt wurde und

Скачать книгу