Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems

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der Fremdheit in der frühneuzeitlichen Literatur

      So sollen denn einige der kulturgeschichtlichen Bestände, die einem Leser von heute bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit besonders große Mühe machen, sogleich etwas näher beleuchtet werden. Es wird sich zeigen, daß es sich dabei vielfach um die gleichen oder jedenfalls doch um ganz ähnliche kulturelle Praktiken handelt, wie sie heute noch in einigen außereuropäischen Gesellschaften anzutreffen sind und auch bei ihnen von einem modernen Mitteleuropäer

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      als befremdlich wahrgenommen werden, wie sie insbesondere den Kulturkreis kennzeichnen, der heute mehr als jeder andere als eine Herausforderung der europäischen Identität erlebt wird: in der islamischen Welt des Vorderen Orients. Und das ist kein Zufall. Denn hier wie dort haben wir es mit Gesellschaften zu tun, die im Kern noch immer traditionale Gesellschaften sind, also mit Gesellschaften, deren Leben noch nicht so sehr durch die Dynamik des Fortschritts, durch Wissenschaft und Technik bestimmt wird als vielmehr durch die Mächte der Tradition und der Religion.

      Religiöser Fundamentalismus

      Als besonders irritierend wird vielfach der religiöse Fundamentalismus wahrgenommen, der im Nahen Osten umgeht, der sogenannte Islamismus. Der Islamist unterteilt die Menschheit in Gläubige und Ungläubige und sucht sein Handeln in allen Belangen an diesem Unterschied auszurichten. Wo er seine Glaubenswelt durch die Ungläubigen bedroht sieht, da fühlt er sich dazu aufgerufen, sich mit kriegerischen Mitteln zu wehren und einen „Heiligen Krieg“, einen „Dschihad“ zum Schutz seiner Glaubenswerte zu führen. Hinzu kommt, daß die Gemeinschaft der Gläubigen in Konfessionen zerfallen ist, die den Islam auf unterschiedliche Weise interpretieren und leben, in Schiiten, Sunni­ten und andere Formationen, und auch diese tragen ihre Konflikte immer wieder mit der Intransingenz religiöser Überzeugungen aus.

      Das alles ist einem heutigen Mitteleuropäer mehr als fremd, ist er doch an das Leben in einer Gesellschaft gewöhnt, die auf dem Weg in die Moderne einen Prozeß der Säkularisation durchlaufen und sich dabei in eine pluralistische Gesellschaft verwandelt hat, also in eine Gesellschaft, die einem Nebeneinander der verschiedenen Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile Raum gibt, in der jeder „nach seiner Façon selig werden“ kann, wie das bekannte Diktum eines aufgeklärten Fürsten des 18. Jahrhunderts, Friedrichs II. von Preußen, lautet. Natürlich kommt es auch hier immer wieder zu Konflikten zwischen unterschiedlichen weltanschaulichen Gruppen, aber diese wachsen sich nicht mehr zu „Heiligen Kriegen“ aus; sie werden mit den Mitteln des modernen Rechtsstaats und der demokratischen Bürgergesellschaft kanalisiert und entschärft. Ohnehin ist die Kraft der Religion zur Mobilisierung und Fanatisierung der Massen im säkularisierten Europa inzwischen auf ein Minimum geschrumpft.

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      In der frühen Neuzeit freilich beherrschte der religiöse Fundamentalismus auch die europäische Welt, und er tat es in einem Maße, das man sich heute kaum noch vorstellen kann. Die abendländische Christenheit befand sich im Grunde während des gesamten Zeitalters im Zustand eines „Heiligen Kriegs“. So trat sie etwa wiederholt zu Kreuzzügen gegen die Türken an, die in immer neuen Wellen nach Mitteleuropa vordrangen und ihre Glaubenswelt bedrohten. Überdies wollte sie auch die Raubzüge des europäischen Kolonialismus in Afrika, Asien und Amerika als Kreuzzüge verstanden wissen, ließ sie den Conquistadoren und Geschäftemachern doch, wo immer es möglich war, die Missionare folgen, die die einheimische Bevölkerung unter dem Schutz der Gewehre zum Christentum bekehrten. Und schließlich gab es in der frühen Neuzeit eine ganze Reihe von Kriegen, die man „heilige Bürgerkriege“ nennen könnte; der bekannteste ist der Dreißigjährige Krieg der Jahre 1618 –1648. Denn seit der Reformation war auch die Christenheit in verschiedene Konfessionen zerfallen, und Katholiken und Protestanten zögerten nicht, ihre Konflikte mit blutiger Gewalt auszutragen. Der religiöse Fundamentalismus ist aus der Geschichte Europas nicht wegzudenken – eine unbequeme, ja unbehagliche Einsicht, die aber vielleicht dazu verhilft, vergleichbare Erscheinungen in außereuropäischen Gesellschaften von heute mit anderen Augen anzusehen.

      Opfertod

      Die heiligen Krieger des Islam, die „Fedajin“, bekunden immer wieder ihre Bereitschaft, für ihren Glauben den „Märtyrertod“ auf sich zu nehmen, und sie zeigen sich davon überzeugt, daß sie dafür im Jenseits mit einem Leben im Paradies belohnt werden würden. Auf alle, die nicht die Kraft aufbringen, für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einzustehen, blicken sie mit Verachtung herab. Sie meinen damit vor allem die Menschen in den Gesellschaften des Westens, denn in diesen hat auf dem Weg in die Moderne ein Individualismus Gestalt angenommen, für den die Selbstverwirklichung des Einzelnen ein höchster Wert ist. Jeder darf sich hier berechtigt fühlen, ja sieht sich geradezu aufgefordert, „sein Leben zu leben“; da ist für den Gedanken des Opfertods natürlich kein Platz mehr.

      In der christlichen Welt der frühen Neuzeit freilich war die Figur des Märtyrers auch in Europa ein Leitbild des Handelns, ja der Vorstellung vom Opfertod kam hier geradezu zentrale Bedeutung zu.

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      Schließlich hatte der Stifter des Christentums, das Vorbild jedes wahren Christenmenschen Jesus Christus selbst einen Märtyrertod auf sich genommen und sein Leben am Kreuz für die Sünden der Welt hingegeben. Wie wichtig der Gedanke des Opfertods in der Vorstellungswelt der frühen Neuzeit war, bezeugt nicht zuletzt ihre Literatur. Man begegnet ihm in ihr auf Schritt und Tritt; man findet ihn keineswegs nur im Märty­rerdrama, jener Untergattung des barocken Trauerspiels, die bereits mit ihrem Namen auf den Märtyrertod verweist. Immer wieder geht es um die Haltung der Constantia, um jene Beständigkeit, jenes Einstehen für eine Wahrheit und Tugend, wie die Religion sie lehrt, das auch zur letzten Konsequenz bereit ist. Der Opfertod ist der eminente Fall, an dem die Grundfragen des menschlichen Daseins erkundet werden. In ihm will man ein Menschentum sich bezeugen sehen, dem die unsichtbare innere Welt, die Welt der Seele und des Geistes, mehr bedeutet als die handfeste äußere Welt, mehr als das schnöde Leben und das irdische Glück, und an diesem Zeugnis ist alles gelegen.

      Geben wir es ruhig zu: das ist uns fremd. Schon mit dem Begriff des Geistes haben wir heute unsere Schwierigkeiten. Viele unserer Zeitgenossen scheuen sich, ihn überhaupt noch in den Mund zu nehmen; er ist ihnen irgendwie peinlich, wird von ihnen als abgehoben und verblasen empfunden. Selbst in den Geisteswissenschaften wollen manche vom Geist nichts mehr wissen und sprechen statt dessen lieber von Mentalitäten und Diskursen. Und erst recht haben wir mit der Vorstellung vom Opfertod unsere Mühe. Wie soll man aber auch Verständnis für literarische Figuren entwickeln, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstehen, wenn man von nichts so sehr überzeugt ist wie davon, daß sich Überzeugungen ändern können, daß was noch heute eine Wahrheit heißt sich morgen schon als Unwahrheit entpuppt haben kann und was sich in der einen Situation als Tugend bewährt in einer anderen womöglich verheerende Folgen zeitigt! Und solcher Relativismus, solche Situationsethik bestimmen im modernen Europa ja weithin das Denken und Handeln der Menschen.

      Wir halten es demgemäß lieber mit Bertolt Brecht, der in der Gegenwendung gegen ein bekanntes Schillerwort, in dem sich noch einmal die enge Verbindung der Tragödie mit der Idee des Opfertods bezeugt,

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