Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Und so suchte man denn in allen Phasen der Literaturgeschichte, selbst in den ältesten Zeiten, selbst in der altgermanischen Sagenwelt und im Umfeld des ersten namhaften Germanenfürsten Hermann des Cheruskers – jenes Arminius, der den Römern 9 n. Chr. die Schlacht im Teutoburger Wald geliefert haben soll – die Spuren dieses unwandelbaren „deutschen Wesens“. Man kann sich aus heutiger Sicht nur darüber wundern, wie genau man seinerzeit zu wissen meinte, was „deutsche Eigenart“ sei; so war man sich etwa dessen sicher, daß Treue, Biederkeit, Frömmigkeit und Tiefsinn typisch deutsche Werte seien. In sämtlichen bedeutenden Werken der deutschen Literatur sollte sich derlei bald mehr und bald weniger deutlich gezeigt haben, am deutlichsten aber in denen der beiden „Blütezeiten“, der „mittelhochdeutschen“ und der „Weimarer Klassik“. Da sollte alles, was die Identität der Deutschen phasenweise hatte überlagern und niederhalten können, entweder völlig abgeschüttelt oder restlos in „deutsche Eigenart“ verwandelt worden sein.
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Demgemäß wurde der Alterität hier vor allem die Rolle eines „agent provocateur“ der Identität zugewiesen. Eine Begegnung mit dem Fremden, wie sie den Deutschen zuerst durch die Römer und zuletzt durch die Franzosen zugemutet worden sein sollte, war nur in zwei verschiedenen Formen vorgesehen: in der der Überfremdung, also eines Überfalls auf die deutsche Identität, eines mehr oder weniger gewaltsamen Anschlags auf das „ewige deutsche Wesen“, sowie in der der Anverwandlung, und das heißt: in Form eines Geschehens, bei dem sich das Fremde als ein bis dato noch nicht bewußt gewordenes und unentfaltet gebliebenes Eigenes entpuppte, bei dem es den Charakter der Alterität verlor und zu einem integralen Bestandteil der Identität wurde. So oder so sollte die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr und nichts anderes bewirken können als eine neuerliche, nunmehr besonders entschiedene Besinnung auf das Eigene, als ein klareres Bewußtsein der eigenen Identität und eine konsequentere Entfaltung der eigenen Potentiale. Daß es auch einen produktiven Austausch mit dem Fremden geben und die Identität sich dabei zu ihrem eigenen Besten verändern könnte, war außerhalb der Vorstellung. Man hatte eben noch keine dynamischen, hatte nur statische Begriffe von Identität.
Nationalphilologie und Komparatistik
Dabei ist es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geblieben. Erst das Erlebnis des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der beiden großen Katastrophen des europäischen Nationalismus, brachte einen Wandel. Er begann unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versuch, die Germanistik systematisch mit den anderen Nationalphilologien, die sich im 19. Jahrhundert gebildet hatten, mit Fächern wie Romanistik und Anglistik ins Gespräch zu bringen. Aus ihm ist damals ein neuer Zweig der Literaturwissenschaft erwachsen, die Komparatistik oder Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft.8
Was hier an neuen Formen der Literaturgeschichtsschreibung erprobt wurde, blieb zunächst freilich noch immer den alten Konzepten von Identität und Alterität verhaftet. Denn man versuchte die Grenzen zwischen den Nationalphilologien lediglich dadurch
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aufzubrechen, daß man die Instanz der Identität tiefer legte, daß man eine gemeineuropäische Identität unterhalb der verschiedenen nationalen Identitäten herauszuarbeiten suchte, als einen gemeinsamen Fond von Wesenszügen, in dem alle europäischen Nationen miteinander verbunden wären. Diese gemeineuropäische Identität dachte man sich aber ebenso als eine statische Größe, als unwandelbare, unverlierbare Eigenart wie die zuvor entwickelten nationalen Identitäten. Sie sollte vor allem auf den drei Faktoren beruhen, in denen man die Grundpfeiler des „Abendlands“ erkennen wollte: 1. auf dem Erbe der Antike, auf dem, was von den alten Griechen und Römern auf die modernen europäischen Nationen gekommen war, 2. auf dem jüdisch-christlichen Erbe, auf den Traditionen der christlichen Religion, und 3. auf dem germanischen Erbe; denn die modernen europäischen Nationen gehen ja weithin auf die Staatenbildung der Germanen in den Zeiten der Völkerwanderung zurück. An einen vierten, womöglich noch wichtigeren Komplex, an die europäische Aufklärung, die nach und nach alle diese Erbschaften kritisch hinterfragt und auf Distanz gestellt hatte, dachte man zunächst noch kaum.
Kritik am Konzept der Nationalphilologie
Bei alledem blieb das Konzept der Nationalphilologie im Kern unangetastet. Das änderte sich allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg, oder vielmehr in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts; denn so lange dauerte es, bis man sich endlich dazu durchgerungen hatte, mit aller Entschiedenheit die Konsequenzen aus den kriegerischen Debakeln des europäischen Nationalismus zu ziehen und sich, wo immer es möglich schien, von ihm zu lösen. Da wurde dann gefragt, ob sich die Germanistik noch immer als eine „deutsche Wissenschaft“ begreifen wolle 9 und warum ihre Literaturgeschichtsschreibung so lange auf das Moment der nationalen Identität fixiert gewesen sei. Hatte das die Literatur je wirklich beschäftigt? Hatten nicht seit jeher ganz andere Themen und Probleme für sie im Vordergrund gestanden, Fragen, die überall auf der Welt im Kern die gleichen waren und nur am Rande von den Besonderheiten einer Nationalkultur überformt wurden wie die Frage nach dem Verhältnis von Individuum
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und Gesellschaft, individueller Freiheit und sozialen Zwängen, Liebe und Gewalt, Selbstverwirklichung, Unterdrückung und Anpassung? Und hatte man nicht selbst bei dem Thema der Identität zunächst und vor allem an sie zu denken? Aus solchen Überlegungen erwuchs eine Literaturwissenschaft, die sich mehr und mehr auf allgemeine sozialgeschichtliche und sozialpsychologische Fragen fokussierte und nur in diesem Zusammenhang noch auf den nationalen Kontext einging.
Zugleich suchte die Literaturwissenschaft immer tiefer in die Dialektik von Identität und Alterität einzudringen. Dabei wurde sie von jener Entwicklung vor sich hergetrieben, die in den Debatten der Gegenwart unter dem Schlagwort der „Globalisierung“ firmiert, der Entwicklung hin zu einer „multikulturellen Gesellschaft“, wie ein weiteres vielberufenes Schlagwortwort lautet. Wir leben heute in einer Welt, in der immer mehr Menschen immer öfter ins Ausland reisen, ja mit aller Selbstverständlichkeit auf dem gesamten Globus unterwegs sind, sei es weil es das Studium oder der Beruf von ihnen verlangt oder weil sie ihre Freizeit auf Reisen verbringen, und in der ein jeder zugleich in seinem heimatlichen Umfeld immer häufiger mit Menschen zu tun bekommt, die aus einem anderen Kulturkreis stammen und dies in ihrem Gebaren und ihrer Lebensführung weder verleugnen können noch wollen. Wir sind mithin nicht mehr nur ausnahmsweise, bei seltenen Gelegenheiten, sondern permanent und in allen möglichen Zusammenhängen des alltäglichen Lebens mit Alterität konfrontiert, mit Lebensformen, Haltungen, Werten, Weltanschauungen, Religionen, die nicht die unseren sind, die uns fremd sind und die uns insofern einiges an Selbstverleugnung abverlangen – nicht anders als denen, die es mit uns aufnehmen müssen. Natürlich kommt es dabei immer wieder zu Mißverständnissen und Konflikten, ja mancherorts ist gar von einem „clash of civilisations“ die Rede.
Die Dialektik von Identität und Alterität
Vor diesem Hintergrund schien es unumgänglich, die Problematik von Identität und Alterität noch einmal neu und anders zu denken. Dabei versuchte man vor allem auf jenem Weg voranzukommen, der hier mit dem Begriff der Dialektik umschrieben worden ist. So wurde nun mit neuem Nachdruck gefragt, inwieweit die eigene Identität an den Vorstellungen beteiligt sei, die man sich von Alterität mache, und wieviel Alterität sich womöglich in dem verberge, was man jeweils für seine Identität halte, zwei Fragen, die die Literaturwissenschaft um so
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lieber aufnahm, als auch die moderne Literatur des 20. Jahrhunderts mehr und mehr dazu übergegangen war, das Verhältnis von Identität und Alterität in ihrem Sinne zu erkunden.
„Postcolonial