Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Demgemäß wollte sie in den Jahrhunderten zwischen den beiden „Klassiken“, dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, nicht mehr als eine Übergangszeit erblicken. Das Spätmittelalter war für sie die Zeit des Abstiegs vom Gipfel der ersten Blüte, eine Periode unaufhörlichen Niedergangs und Verfalls, und die frühe Neuzeit die Phase des allmählichen Wiederaufstiegs zu neuerlichen Höhen, Jahre heftiger Kämpfe und immer neuer Anläufe zu einer Dichtung von Rang. Was dabei an Literatur entstand, galt ihr insgesamt als wenig bedeutend, als gedanklich unreif und ästhetisch unvollkommen; es interessierte sie im Grunde nur aus historischen Gründen, nämlich um an ihm den Prozeß von Niedergang und Wiederaufstieg zu demonstrieren.
Dieses Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur verdankt sich wesentlich den Interessen und Wertungen der Bewegung, die an der Wiege der Germanistik stand: der Romantik; genauer: der politischen Romantik, der Nationalromantik, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Verbindung der frühromantischen Hochschätzung der schöpferischen Phantasie mit dem nationalen Gedanken, mit der Forderung nach „deutscher Eigenart“ in allen Belangen der Kultur erwuchs. Denn es war sie, die zuerst die Zeit seit dem ersten Auftreten Goethes zur „Morgenröte“ einer „klassischen deutschen Nationalliteratur“ ausrief und die zugleich die Aufmerksamkeit auf die Literatur des Mittelalters lenkte, in der sie den Inbegriff und das Vorbild aller wahrhaft romantischen Poesie erblickte. Hier wie dort sollte es sich um Werke handeln, in denen sowohl die Potentiale der schöpferischen Phantasie in jeder Richtung ausgespielt würden,
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als sie auch mit jeder Faser „deutsche Eigenart“ bezeugen würden und die insofern eben als „klassischer“ Ausdruck der Möglichkeiten einer deutschen Dichtung zu gelten hätten.
Von solchen Vorstellungen aus konnte man aber der Literatur der frühen Neuzeit nur wenig abgewinnen. Diese hatte sich nämlich ganz im Bann der beiden Bewegungen entwickelt, die im 16. Jahrhundert nach und nach dem gesamten kulturellen Leben ihren Stempel aufdrückten: der Renaissance, der Wiederentdeckung und Neuerschließung der Kultur der alten Griechen und Römer durch den Humanismus, und der Reformation und Gegenreformation, des Versuchs einer neuerlichen, besonders intensiven und konsequenten Durchdringung aller Bereiche des Lebens mit den Dogmen und Normen der christlichen Religion. Und das hatte für die Literatur bedeutet, daß sie sich zugleich auf den Weg der „imitatio veterum“, der „Nachahmung der Alten“ begeben und in den Dienst des religiösen Lebens gestellt hatte. Mit anderen Worten: die schöpferische Phantasie hatte sich an das antike und das christliche Erbe gebunden, sie hatte sich selbst dogmatisch-normative Ketten angelegt. Und überdies hatte sie sich dabei von den deutschen Lebensverhältnissen, von „deutscher Art und Kunst“ entfernt, und damit von den Wurzeln, die ihr allein originäre Kraft und Authentizität hätten verleihen können; sie hatte die Kultur der Griechen und Römer gesucht und darüber ihre angestammte Basis aufgegeben. So stellte es sich jedenfalls der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar.
Neue Ansätze der Forschung
Natürlich hat sich die Germanistik inzwischen längst vom Standpunkt der Nationalromantik gelöst. Die Frage nach der „deutschen Eigenart“ ist, nachdem sie kritisch auf ihre problematischen ideologischen Grundlagen hin durchleuchtet worden ist, weithin durch andere Erkenntnisinteressen ersetzt worden. Und auch die Begriffe von Kreativität haben sich gewandelt, auf eine Weise, die der modernen Wissenschaft sehr viel differenziertere Blicke auf das Verhältnis von schöpferischer Phantasie und kulturellem Erbe erlauben als der alten Literaturgeschichtsschreibung. Und so hat sich die Germanistik inzwischen denn auch an einer Wiedergutmachung gegenüber der Literatur der frühen Neuzeit versucht. Das gilt vor allem für die Literatur des 17. Jahrhunderts, die Literatur des Barock. In zwei großen Anläufen – einem ersten in den zwanziger Jahren, einem zweiten in den
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sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – entstand eine Barockforschung, die alles Erdenkliche unternahm, um den spezifischen Qualitäten der Barockliteratur auf die Spur zu kommen. Dabei spielte gerade die Frage nach dem Verhältnis von „Nachahmung und Schöpfung im Barock“ (G. Weydt)1 eine zentrale Rolle.
So groß die Erfolge dieser Barockforschung aber auch waren und so wichtig sie für die Entwicklung der Neugermanistik wurden – denn um der Literatur der frühen Neuzeit nahekommen zu können, mußte das methodische Instrumentarium der Literaturwissenschaft energisch erweitert werden, mußte eine kulturwissenschaftliche Wende vollzogen und der Blick über die Literatur hinaus auf den gesamten kulturgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden – sie konnte den einmal angerichteten Schaden nicht wieder beheben. Von ihren Entdeckungen ist kaum etwas in das Bewußtsein des breiten Lesepublikums eingedrungen; die deutsche Literatur der frühen Neuzeit ist weiterhin ein blinder Fleck im kulturellen Gedächtnis geblieben.
Moderne und frühneuzeitliche Literatur
Man kann dies auch daraus ersehen, daß sie nur selten von der Literatur des 20. Jahrhunderts rezipiert worden ist, die doch ansonsten einen regen Dialog mit allen möglichen Epochen unterhalten hat, und daß den Werken, die so entstanden, noch seltener ein Erfolg beschieden war. Recht eigentlich bekannt geworden ist im Grunde nur die „Mutter Courage“ (1941) von Bertolt Brecht, die Bearbeitung eines Romans von Grimmelshausen für das Theater. Schon „Das Treffen in Telgte“ (1979) von Günter Grass, ein Erzählung, in der eine Zusammenkunft der wichtigsten Dichter des Barock imaginiert wird, gehört zu den weniger erfolgreichen Werken des Autors. Und in der Gegenwartsliteratur findet man allenfalls noch bei dem einen oder anderen Lyriker Spuren frühneuzeitlicher deutscher Dichtung, etwa bei Sarah Kirsch oder bei Durs Grünbein.2 Bezeichnend ist auch, daß sich viele von denen, die ein Studium der Germanistik hinter sich gebracht haben, im hohen Mittelalter besser auskennen als in der frühen Neuzeit, deren Literatur ihnen doch eigentlich aufgrund der
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größeren zeitlichen Nähe leichter zugänglich sein sollte. Offenbar haben selbst hier die Präferenzen der nationalromantischen Literaturgeschichtsschreibung ihre prägende Kraft behalten.
Probleme für den modernen Leser
Wo aber von der Literatur einer Epoche so wenig im kulturellen Leben der Gegenwart präsent ist, da liegt der Verdacht nahe, daß man nichts Wesentliches verpassen würde, wenn man um sie einen Bogen machte. Diesem Verdacht wird man um so lieber Nahrung geben, als man bei der ersten Annäherung an die Textwelt der frühen Neuzeit feststellen muß, daß sie es einem modernen Leser nicht gerade leicht macht, ja daß sie ihm ein besonderes Maß an Leserfleiß, an Neugier, Konzentration und Ausdauer abverlangt. Die Probleme beginnen bereits mit der Sprache, in der sie auf den Leser zukommt, einem deutlich veralteten, in manchem fast unverständlich gewordenen Deutsch irgendwo zwischen Mittel- und Neuhochdeutsch, dem sogenannten Frühneuhochdeutsch. Nur von sehr wenigen Texten gibt es eine modernisierte, an unser Neuhochdeutsch angeglichene Fassung, etwa vom „Till Eulenspiegel“, von den „Schildbürgern“ und vom „Simplicissimus“; bei allem anderen ist man auf das frühneuhochdeutsche Original angewiesen – ein sicheres Indiz