Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems

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Jahrhundert ihren Platz unter den akademischen Wissenschaften erobert hat und in den kulturellen Hausrat der Deutschen eingegangen ist, etwa die „Geschichte der deutschen Litteratur“ (1883) von Wilhelm Scherer, dann sieht man auf den ersten Blick, daß sich ihr Interesse zunächst auf zwei Epochen konzentriert hat: auf die „­Deutsche Klassik“ der Zeit um 1800, also auf die Entwicklung von Lessing bis zu Goethe und Schiller, und auf die „mittelhochdeutsche Klassik“, auf die Jahre um 1200, die Zeit von Walther von der Vogelweide, ­Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. In diesen beiden Epochen sollte die deutsche Literatur nach ihrer Vorstellung ihr Bestes gegeben haben; sie galten ihr als die „Blütezeiten“ dessen, was sie die „deutsche Nationalliteratur“ nannte.

      Demgemäß wollte sie in den Jahrhunderten zwischen den beiden „Klassiken“, dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, nicht mehr als eine Übergangszeit erblicken. Das Spätmittelalter war für sie die Zeit des Abstiegs vom Gipfel der ersten Blüte, eine Periode unaufhörlichen Niedergangs und Verfalls, und die frühe Neuzeit die Phase des allmählichen Wiederaufstiegs zu neuerlichen Höhen, Jahre heftiger Kämpfe und immer neuer Anläufe zu einer Dichtung von Rang. Was dabei an Literatur entstand, galt ihr insgesamt als wenig bedeutend, als gedanklich unreif und ästhetisch unvollkommen; es interessierte sie im Grunde nur aus historischen Gründen, nämlich um an ihm den Prozeß von Niedergang und Wiederaufstieg zu demonstrieren.

      Dieses Bild vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur verdankt sich wesentlich den Interessen und Wertungen der Bewegung, die an der Wiege der Germanistik stand: der Romantik; genauer: der politischen Romantik, der Nationalromantik, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Verbindung der frühroman­tischen Hochschätzung der schöpferischen Phantasie mit dem nationalen Gedanken, mit der Forderung nach „deutscher Eigenart“ in allen Belangen der Kultur erwuchs. Denn es war sie, die zuerst die Zeit seit dem ersten Auftreten Goethes zur „Morgenröte“ einer „klassischen deutschen Nationalliteratur“ ausrief und die zugleich die Aufmerksamkeit auf die Literatur des Mittelalters lenkte, in der sie den Inbegriff und das Vorbild aller wahrhaft romantischen Poesie erblickte. Hier wie dort sollte es sich um Werke handeln, in denen sowohl die Potentiale der schöpferischen Phantasie in jeder Richtung ausgespielt würden,

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      als sie auch mit jeder Faser „deutsche Eigenart“ bezeugen würden und die insofern eben als „klassischer“ Ausdruck der Möglichkeiten einer deutschen Dichtung zu gelten hätten.

      Von solchen Vorstellungen aus konnte man aber der Literatur der frühen Neuzeit nur wenig abgewinnen. Diese hatte sich nämlich ganz im Bann der beiden Bewegungen entwickelt, die im 16. Jahrhundert nach und nach dem gesamten kulturellen Leben ihren Stempel aufdrückten: der Renaissance, der Wiederentdeckung und Neu­erschließung der Kultur der alten Griechen und Römer durch den Humanismus, und der Reformation und Gegenreformation, des Versuchs einer neuerlichen, besonders intensiven und konsequenten Durchdringung aller Bereiche des Lebens mit den Dogmen und Normen der christ­lichen Religion. Und das hatte für die Literatur bedeutet, daß sie sich zugleich auf den Weg der „imitatio veterum“, der „Nachahmung der Alten“ begeben und in den Dienst des religiösen Lebens gestellt hatte. Mit anderen Worten: die schöpferische Phantasie hatte sich an das antike und das christliche Erbe gebunden, sie hatte sich selbst dogmatisch-normative Ketten angelegt. Und überdies hatte sie sich dabei von den deutschen Lebensverhältnissen, von „deutscher Art und Kunst“ entfernt, und damit von den Wurzeln, die ihr allein originäre Kraft und Authentizität hätten verleihen können; sie hatte die Kultur der Griechen und Römer gesucht und darüber ihre angestammte Basis aufgegeben. So stellte es sich jedenfalls der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar.

      Neue Ansätze der Forschung

      Natürlich hat sich die Germanistik inzwischen längst vom Standpunkt der Nationalromantik gelöst. Die Frage nach der „deutschen Eigenart“ ist, nachdem sie kritisch auf ihre problematischen ideologischen Grundlagen hin durchleuchtet worden ist, weithin durch andere Erkenntnisinteressen ersetzt worden. Und auch die Begriffe von Kreativität haben sich gewandelt, auf eine Weise, die der modernen Wissenschaft sehr viel differenziertere Blicke auf das Verhältnis von schöpferischer Phantasie und kulturellem Erbe erlauben als der alten Literaturgeschichtsschreibung. Und so hat sich die Germanistik inzwischen denn auch an einer Wiedergutmachung gegenüber der Literatur der frühen Neuzeit versucht. Das gilt vor allem für die Literatur des 17. Jahrhunderts, die Literatur des Barock. In zwei großen Anläufen – einem ersten in den zwanziger Jahren, einem zweiten in den

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      So groß die Erfolge dieser Barockforschung aber auch waren und so wichtig sie für die Entwicklung der Neugermanistik wurden – denn um der Literatur der frühen Neuzeit nahekommen zu können, mußte das methodische Instrumentarium der Literaturwissenschaft energisch erweitert werden, mußte eine kulturwissenschaftliche Wende vollzogen und der Blick über die Literatur hinaus auf den gesamten kulturgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden – sie konnte den einmal angerichteten Schaden nicht wieder beheben. Von ihren Ent­deckungen ist kaum etwas in das Bewußtsein des breiten Lesepublikums eingedrungen; die deutsche Literatur der frühen Neuzeit ist weiterhin ein blinder Fleck im kulturellen Gedächtnis geblieben.

      Moderne und früh­neuzeitliche Literatur

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      größeren zeitlichen Nähe leichter zugänglich sein sollte. Offenbar haben selbst hier die Präferenzen der nationalromantischen Literaturgeschichtsschreibung ihre prägende Kraft behalten.

      Probleme für den modernen Leser

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