Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
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Dabei kann gerade der Zugriff über die Sozial- und Kulturgeschichte der Modernisierung gute Dienste tun, wird es von ihm aus doch möglich, wesentlich Züge der Literatur der „Goethezeit“ als moderne Züge zu fassen, nämlich zu zeigen, daß sie sich weniger an einem zeitlos-klassischen Ideal der Schönheit als vielmehr an dem abgearbeitet hat, was hier an Problemen der Modernisierung benannt worden ist – wohlgemerkt: an den Problemen der Modernisierung, nicht an denen der Aufklärung! – also an den problematischen Zügen der Verwissenschaftlichung der Welt, der Säkularisation, des Materialismus, Skeptizismus und Nihilismus, der neuen Mobilität, des neuen Pluralismus und Individualismus, auch und gerade dort, wo sie die aktuelle Politik flieht und nach Griechenland schaut. Überhaupt wird es von ihm aus möglich, der primitiven Opposition klassische Formkunst – politisches Engagement zu entkommen, wie sie seit jeher nicht nur den Blick auf die Klassik, sondern auch den auf
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den Vormärz und auf spätere Epochen verstellt hat. In diesem Sinne soll die vorliegende Reihe von Einführungen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Revision der Literaturgeschichte dienen, einer kritischen Überprüfung der Begriffe, mit denen die Wissenschaft Literatur kennzeichnet, wo sie diese historisch verortet und in einen Epochenzusammenhang rückt.
Hauptlinien der Entwicklung
So verbindet sich mit diesem Versuch, die Geschichte der neueren deutschen Literatur am Leitfaden der Geschichte der Modernisierung zu erkunden, die Hoffnung, einige weitgespannte Entwicklungslinien aufzeigen zu können, von denen aus sich auch die historisch fernsten Epochen den Fragen, Interessen und Verstehensmöglichkeiten der Gegenwart erschließen und sich die Literaturen der berührten Epochen, der früheren und der späteren, immer wieder wechselseitig kommentieren und erhellen.
Eine erste dieser Entwicklungslinien wird, wie angedeutet, die Geschichte der Verwissenschaftlichung der Welt sein, wie sie bis heute dank der Akademisierung des Wissens und der Bildung, dank Arbeitsteilung und moderner Technik alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens erfaßt und durchdrungen hat. Schon der Humanismus geht auf eine solche Verwissenschaftlichung aus, aber auf der Basis eines anderen als des modernen Wissenschaftsbegriffs – den hat er selbst erst allmählich aus sich hervorgebracht – so daß „Kunst und Wissenschaft“ hier noch eine fraglose Einheit bilden können. Als die moderne Wissenschaft dann in der Zeit der Aufklärung Gestalt annimmt, zerbricht diese Einheit, und die Kunst sucht die Autonomie gegenüber der Wissenschaft. Seither ist das Verhältnis der Literatur zur Wissenschaft ein ambivalentes; bald sucht sie den Anschluß an sie wie noch in der frühen Aufklärung oder dann im Naturalismus und gelegentlich in der Neuen Sachlichkeit, bald geht sie zu ihr auf Distanz und setzt sich kritisch mit ihren Folgen auseinander wie im Symbolismus, und bald betreibt sie beides zugleich wie in bestimmten Phasen von Klassik, Romantik, Realismus und Moderne.
Als eine zweite Entwicklungslinie soll die Geschichte der Säkularisation und der mit ihr verbundenen zunehmenden weltanschaulichen Unruhe verfolgt werden. Wenn sich die Literatur bis zum Barock mit der größten Selbstverständlichkeit auf den Boden der christlichen Religion stellte, wobei freilich stets die Frage war, im Sinne welcher Konfession,
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so ist sie seit der Aufklärung auch hier auf Autonomie ausgegangen, um sich in verschiedenen Ersatzreligionen eine andere Grundlage zu schaffen. In Aufklärung und Klassik sind das vor allem der Pantheismus und die „Humanitätsreligion“, in der Romantik zunächst die „Kunstreligion“ und dann die „Nationalreligion“, im Vormärz darüber hinaus auch der Historizismus. Im Realismus hat es die Literatur dann mit allen diesen Ersatzreligionen gleichzeitig und in wechselnden Mischungen probiert, im Naturalismus vor allem mit dem Szientismus und im Symbolismus wieder mehr mit der „Kunstreligion“, dem Ästhetizismus. Erst in der Moderne des 20. Jahrhunderts haben sich verstärkt areligiöse, atheistische oder agnostische Positionen zu Wort gemeldet, wobei diese vielfach dem Vitalismus verpflichtet blieben.
Als eine dritte Entwicklungslinie soll die zunehmende Mobilität von Menschen und Meinungen, Informationen und Dingen ins Auge gefaßt werden; dabei soll insbesondere auf die Phänomene der sozialen Mobilität eingegangen werden. Wenn sich der Mensch in der frühen Neuzeit weithin noch an einen bestimmten Ort in der Ständegesellschaft, an eine bestimmte Region und Religion und an die von ihnen her gegebenen Traditionen und Konventionen gebunden sah, so lockerten sich seit dem 18. Jahrhundert alle diese Bindungen, um im 19. Jahrhundert, in der Zeit der industriellen Revolution, der Landflucht und der großen Auswanderungen auf eine Weise in Bewegung zu geraten, die zugleich jede erdenkliche Form von Karriere und von sozialem Absturz möglich werden ließ.
Die Literatur hat diesen Prozeß mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt, nicht nur weil ihr von ihm aus immer wieder neuer Erzählstoff zuwuchs. Sie erblickte in ihm ebensowohl einen Prozeß der Befreiung, der der Individualisierung die nötigen Spielräume verschaffte, wie einen Prozeß der „Entwurzelung“, der die Menschen in äußere Unsicherheit und innere Haltlosigkeit stieß, so daß sie nun verstärkt nach den Wurzeln des Menschen fragte, etwa nach Geschichte, Nation und Heimat. Wenn sie hier im Namen der Selbstverwirklichung des Individuums an der weiteren Verflüssigung von Traditionen und Konventionen arbeitete, so vertiefte sie sich dort in die Problematik des „flexiblen Menschen“ (R. Sennett) und suchte in dem unausgesetzten Vorsichhinprozessieren der Modernisierung Räume der „Entwicklungsfremdheit“ (G. Benn) zu eröffnen.
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Eine vierte Entwicklungslinie, die hier verfolgt werden soll und die für die Literatur von besonders großer Bedeutung ist, ist die Geschichte der Individualisierung. Sie beginnt mit der Individualisierung des Gottesbezugs in den Kirchen der Reformation und insbesondere in den neuen Sekten, etwa im Pietismus, um in Zeiten der Aufklärung zum ureigensten Anliegen der Literatur zu werden. Wenn die Literatur zuvor in allen Belangen auf das Typische ausgegangen war, so vertiefte sie sich nun mehr und mehr in das Originelle, Singuläre und in die Selbstverhältnisse des Individuums. Dabei gewann die Dimension des Unbewußten immer größere Bedeutung für ihr Menschenbild, im 18. Jahrhundert zunächst vor allem in Gestalt der Kräfte des „Es“, der naturgegebenen Instinkte, im 19. Jahrhundert dann zunehmend auch in Form der Kräfte des „Man“, der verinnerlichten Normen einer Gesellschaft.
Die zunehmende Aufmerksamkeit auf das Unbewußte führte an der Schwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Einfluß, den die moderne wissenschaftliche Psychologie in dem szientistisch gestimmten Raum des Naturalismus entfaltete, schließlich zu einer Krise der Ichbegriffe, zur Vorstellung vom „unrettbaren Ich“ (H. Bahr), mit unabsehbaren Folgen für die Literatur. Seither dominieren plurale Ich-Konzepte, die das Bewußtsein unter dem Einfluß des „Es“ und des „Man“ wissen, die Darstellung des Menschen. Das gilt jedenfalls für die Kunstliteratur; die Unterhaltungsliteratur arbeitet weiter mit der überkommenen Charakterpsychologie und wird wohl bis ans Ende aller Tage dabei bleiben.
Eine letzte, fünfte Entwicklungslinie, von der aus die Geschichte der neueren Literatur erschlossen werden soll, ist der Weg zur pluralistischen Gesellschaft. Er beginnt mit der Reformation, mit der Konfessionalisierung von Kultur und Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Idee der Einheit der Christenheit wird er zunächst freilich immer nur als ein Mißstand begriffen,