Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems

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und mit Wörtern, deren Semantik man sich immer wieder mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuchs 3 erschließen muß.

      Die Probleme mit der Sprache gehen aber noch weiter. Wer tiefer in die Welt der frühneuzeitlichen Literatur eindringen will, sieht sich früher oder später genötigt, es auch mit der neulateinischen Literatur aufzunehmen; so nennt man die lateinische Literatur seit dem 15. Jahrhundert. Denn die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur wird vielfach nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, was seinerzeit im Raum dieser neulateinischen Literatur geschah. Die Elite der Gebildeten – Theologen und humanistische Gelehrte – verständigte sich und schrieb in lateinischer Sprache, und die deutschsprachige

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      Literatur zehrte von dem, was hier an Texten entstand, was etwa die Humanisten bei ihrem Studium der antiken Kultur der Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen. So muß jede vertiefte Untersuchung eines Stoffs oder Motivs, einer Gattung, einer Stilfigur oder eines anderen Aspekts der Form, ja der Konzepte von Kunst und Literatur überhaupt irgendwann auch die Schwelle zum Lateinischen überschreiten; denn von den neulateinischen Texten ist noch weniger in unser modernes Deutsch übertragen worden als von den frühneuhochdeutschen.

      Und weitere Hürden sind bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit zu meistern. Die Autoren schrieben für ein Publikum, dessen Welt- und Menschenbild wesentlich durch die christ­liche Religion und das Erbe der Antike geprägt war und das insofern in einem Maße mit den Geschichten, Lehren, Bildern und sprachlichen Wendungen der Bibel, mit den Viten der Heiligen und den Dogmen und Normen der christlichen Theologie sowie mit den Mythen, den Götter- und Heldengeschichten der Griechen und Römer, mit deren Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Literatur vertraut war, das einem Leser von heute in der Regel nicht mehr gegeben ist. Will er dem Gerechtigkeit widerfahren lassen, was die Texte davon in sich aufgenommen haben, und will er sich keine der Anspielungen, der direkten und indirekten Verweise entgehen lassen, die in dieser untergegangenen Bildungswelt gründen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in deren Wissensbestände einzuarbeiten.

      Hinzu kommt, daß sich die Literatur der frühen Neuzeit auf Lebensformen bezieht und von Lebensformen spricht, die sich deutlich von dem unterscheiden, was ein heutiger Leser gewohnt ist. Denn natürlich sah der Alltag der Menschen in einer Welt, die noch nichts vom Fortschritt, von moderner Wissenschaft, technisch-industrieller Produktionsweise, demokratischer Bürgergesellschaft und bürokra­tischem Rechts- und Sozialstaat wußte, die in allem auf Tradition und Religion setzte, in ständische Hierarchien gegliedert war und von Landwirtschaft und Handwerk lebte, in vielem anders aus als heute. Auch damit muß sich der Leser erst vertraut machen.

      Eine Literatur ohne bleibende Bedeutung?

      Wo aber bereits im Vorfeld der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text so viel an Vor- und Nebenarbeiten zu leisten ist, da kann die Frage nicht ausbleiben, ob sich der Einsatz wirklich lohne,

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      Die Kunst der Renaissance

      Der böse Verdacht verfliegt jedoch mit einem Schlag, sobald man über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaussieht und die Literatur anderer europäischer Nationen mit ins Auge faßt, und er löst sich vollends in nichts auf, wenn man auch an andere Künste denkt, etwa an die Bildende Kunst. Von allem, was aus fernen Zeiten auf die heutige Menschheit gekommen ist, ist wohl nur wenig in der Kultur der Gegenwart so präsent wie die Kunst der Renaissance; das gilt selbst für die populäre Kultur. Von den italienischen Künstlern Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael und von dem deutschen Albrecht Dürer hat jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse schon einmal etwas gehört. Werke wie die „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ von Leonardo, der „David“ und die Fresken der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, die „Sixtinische Madonna“ von Raffael, die „Betenden Hände“, der „Hase“ und die „Apokalyptischen Reiter“ von Dürer haben einen so hohen Wiedererkennungswert, daß sogar die Werbung von ihnen Gebrauch macht. Kaum weniger bekannt sind einige Künstler des Barock wie die Niederländer Rembrandt und Rubens.

      Bedeutende Bauwerke der Renaissance wie der Petersdom in Rom und solche des Barock wie das Königsschloß in Versailles sind beliebte Touristenziele und werden jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Wenn ein Museum eine Ausstellung der Werke von Mantegna oder Giorgione, Tizian oder Caravaggio zustande bringt, wird es von einem begeisterten Publikum überlaufen. Niemand, der Kunstgeschichte

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      studiert oder sich überhaupt für Kunst interessiert, kommt an der frühen Neuzeit vorbei; die Vertrautheit mit ihrer Kunst ist die Basis für alles andere. An der Kultur der frühen Neuzeit, an dem, was sie den Menschen an geistigem Rüstzeug mitgab und an kreativen Möglichkeiten eröffnete, kann es also nicht liegen, wenn die deutsche Literatur jener Jahre im kulturellen Gedächtnis nur noch ein Schattendasein fristet.

      Die frühneuzeitliche Literatur anderer Nationen

      Dieser Befund bestätigt sich bei einem Blick auf die Literatur anderer europäischer Nationen, etwa auf die der Italiener, Spanier und Franzosen, der Engländer und Niederländer. Was hier jeweils für die klassische Phase der Literaturgeschichte, für die „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der Nationalliteratur gehalten wird, ist nämlich durch die Bank bereits in der frühen Neuzeit angesiedelt, und man kann nicht erkennen, daß das dem literarische Leben zum Nachteil gereicht hätte – im Gegenteil: für jede dieser Literaturen ist das Gespräch mit den großen Autoren der frühen Neuzeit bis heute eine Quelle ihres spezifischen Reichtums.

      Bei den Italienern läßt man die „Blütezeit“ mit Dante (1265 –1321), Petrarca (1304 –1374) und Boccaccio (1313 –1375) sogar schon im Spätmittelalter beginnen, um sie in der frühen Neuzeit mit Ariost (1474 –1533) und Tasso (1544 –1595) lediglich ausklingen zu lassen. Die Spanier erblicken ihr „Siglo d’oro“ in der Zeit von Cervantes (1547 –1616), Lope de Vega (1562 –1635) und Calderón (1600 –1681), die Engländer ihr „Golden Age“ im Umkreis von Shakespeare (1564 –1616), die Franzosen haben ihr „Grand Siècle“ in der Zeit von Corneille (1606 –1684), Molière (1622 –1673) und Racine (1639 –1699), und die Niederländer ihr „Golden Eeuw“ in der ihres Joost van den Vondel (1587 –1679). Es versteht sich von selbst, daß die solcher­maßen zu Klassikern ausgerufenen Autoren im kulturellen Gedächtnis dieser Nationen eine prominente Rolle spielen und daß ihre Werke bis auf den heutigen Tag bei ihnen ein zentraler Gegenstand des Interesses sind.

      Frühneuzeitliche Klassiker der Weltliteratur

      Sie alle sind übrigens früher oder später auch in Deutschland gelesen worden, und sie sind hier vielfach so intensiv rezipiert worden, daß sie in der deutschsprachigen Literatur tiefe Spuren hinterlassen haben. Ja einige von ihnen haben stärker auf spätere Generationen gewirkt und sind im literarischen Leben der Gegenwart präsenter als die meisten deutschen Autoren der frühen Neuzeit. Das gilt vor allem

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